Voraussetzung für einen gelungenen Tango ist ein perfekt aufeinander abgestimmtes Miteinander. Wie gemeinsames Handeln funktioniert, ist eine zentrale und wenig untersuchte Fragestellung.

Foto: APA

Michael Kimmel ist Kognitionswissenschafter an der Uni Wien.

Foto: David Fernández

STANDARD: Sie beschäftigen sich mit Tango. Wie konkret?

Kimmel: In der Kognitionswissenschaft befassen wir uns mit menschlichem Fühlen, Denken, Handeln aber auch mit Wahrnehmung und den Emotionen, die damit verbunden sind. Embodiment, also die Verkörperung, ist dabei ein zentraler Bereich. Im Tanz interagieren Menschen. Da macht einer was, der andere auch, und die Frage ist, wie das zusammenhängt. Diese Dynamik am Beispiel des Tangos zu zeigen hat sich aus persönlichem Interesse ergeben. Wir beschäftigen uns mit demselben Fokus auch mit Shiatsu, Feldenkrais, Aikido und Improvisationstanz.

STANDARD: Inwiefern?

Kimmel: Wir erforschen Interaktion, vergleichen, versuchen eine Art "Grammatik" und "Vokabular" zu entwickeln, um Prinzipien des gemeinsamen Handelns zu definieren – auch körpersprachlich.

STANDARD: Wie ziehen Sie Schlüsse?

Kimmel: Beim Tango interagieren Körper in Echtzeit. Da geht es um Körperhaltung, Muskelspannung und darum, seine Wahrnehmung zu kalibrieren. Anfänger sind sich dieser Grundelemente oft nicht bewusst, weil man sie im Alltag ja auch nicht braucht.

STANDARD: Wie geht das konkret?

Kimmel: Wer mit Tango beginnt, erfährt, dass es um eine gute Körperachse geht. Es ist eine Bewusstwerdung der eigenen Möglichkeiten. Für viele sind es Neuentdeckungen. Es geht um die Wahrnehmungstricks des Menschen.

STANDARD: Und darum, was ein Gegenüber macht?

Kimmel: Das eine ist die Wahrnehmung der eigenen und gemeinsamen Möglichkeiten, beim Tango sind es Schritte, Abfolgen, Drehungen. Man muss verstehen, was in einer Umarmung alles passieren kann. Da gibt es eine Grammatik. So sollte das Brustbein der Tänzer immer zueinander orientiert sein, nur so gelingt Interaktion.

STANDARD: Was ist mit Sprache?

Kimmel: Sprache und Tanz sind vergleichbar, was Wahrnehmung und Reaktion betrifft. Tänzer eignen sich eine Art Körpergrammatik an, die auf Bereitschaft und schneller Reaktion beruht. Spüren und gespürt werden, darum geht es.

STANDARD: Mit welchen Methoden arbeiten Sie?

Kimmel: Im Tangoprojekt mit der Methode des Lautdenkens und Interviews. Wir haben Tango-Novizen im Abstand von drei Monaten nach ihren Erfahrungen befragt. Es ging dabei darum, uns Auskünfte zu Tanzsequenzen zu geben und zu erklären, was in drei bis fünf Sekunden alles passiert. Was spürst du? Was planst du? Wo war deine Aufmerksamkeit? Das menschliche Bewusstsein ist praktisch immer in einem Fluss. Durch Lautdenken können wir Phasen erkennen.

STANDARD: Welche praktischen Anwendungen könnten sich daraus ergeben?

Kimmel: Wir befassen uns mit der Körperorganisation und der Frage, wie Bewegung im menschlichen Körper gesteuert und koordiniert wird. Es geht auch darum, was genau Interaktion auslöst. Allerdings machen wir Grundlagenforschung, deren Ergebnisse allerdings als strukturierte Anleitungen für Unterrichtende dienen könnten. Angewandte Kognitionswissenschaft hingegen arbeitet unter anderem auch im medizinischen Kontext, etwa im Bereich psychischer Erkrankungen wie Schizophrenie und Autismus. Unser Schwerpunkt in Wien ist das Wechselspiel zwischen der Autonomie eines Individuums und der Gruppe. Das ist für Bereiche wie Organisationsberatung oder Krisenmanagement durchaus relevant.

STANDARD: Und darüber hinaus?

Kimmel: Interaktion ist immer der Ausgleich zwischen der Autonomie des Individuums und der Gruppe. Der Mensch ist ein Gruppenwesen. Stellt sich aufeinander ein. Jeder kennt, wenn das nicht funktioniert. Zum Beispiel, wenn sich zwei Menschen im Flur ausweichen wollen, aber jeweils auf dieselbe Seite springen und so nicht aneinander vorbeikommen. Warum ist das so? Aber auch die Frage, was ein gutes Team ausmacht, ist nicht klar. Was passiert beim Militär? Da gibt es eine übergeordnete Dynamik. Die interaktionsorientierte Kognitionswissenschaft will das Modell Mensch dynamisch aus einem sozialen Blickwinkel heraus beschreiben. (Karin Pollack, 24.1.2016)