Foto: Dorothee Golz

Es war einmal ein stolzer junger Mann, dem keine seiner Verehrerinnen gut genug war. Unbeirrt hätte er sein Leben so weitergelebt, wäre ihm nicht eines Tages im Wasser, über das er sich gebeugt hatte, sein eigenes Gesicht als Spiegelung begegnet.

Je nachdem, welcher Fassung des Mythos man vertraut, war Narziss von nun an in sein Spiegelbild, also in sich selbst verliebt; oder er erkannte sich nicht und vermeinte, jemand anderen vor sich zu haben, verfiel dieser Täuschung buchstäblich und ertrank; oder eine Welle verzerrte das Bild und schreckte ihn ob der Hässlichkeit des Anblicks.

Syrische Flüchtlinge aus Kobane machen nach geschaffter Überfahrt nach Lesbos ein Selfie.
BRENDAN MCDERMID

So oder so, die Geschichte des ersten aller Narzissten beruht unter anderem darauf, wie selten und daher bedeutungsschwer der eigene Anblick war. Es gab keine Spiegel, und man machte sich kein Bildnis. Wie man aussah, erriet man vielleicht aus den Augen der anderen, oder man hielt sich an sein eigenes, mehr oder weniger unbestimmtes Gefühl. Nach dieser in der Vorgeschichte angesiedelten Legende über den Sohn eines Flussgottes fiel es uns sukzessive wie Schuppen von den Augen. Immer bessere Spiegel, immer genauere Porträtmaler (auf die kommen wir noch zurück), erst recht die Fotografie: Seit fast 200 Jahren machen wir uns von allem und jedem und von uns selbst gerne ein Bild oder zwei oder sehr viel mehr, und seit einigen Jahren erleben wir einen weiteren Schub. Die digitale Technik und einige nette Neuerungen im Detail bescherten uns: das Selfie.

Sackgasse Selfie-Stick?

Das Selfie ist in unseren Alltag eingebrochen wie ein Flächenbrand. Keine Feiern, kaum eine Einladung, keine Wanderung oder Wahlveranstaltung ohne Selbstdarstellung mit anschließender Verbreitung im Netz. Es genügt die Tatsache, dass man da ist, wo man gerade ist, und dass man andere daran teilnehmen lassen möchte, damit es zur "niedrigschwelligen und zeitsparenden Produktion von Selbstbildern" kommt, dem Medientheoretiker Ramón Reichert zufolge Teil einer "Kultur des Selbermachens". Niedrigschwellig in der Tat. Die Menschheit, vor allem im reicheren und vernetzten Teil der Welt, macht heute in zehn Minuten so viele Bilder wie früher in Jahrzehnten, und ein beträchtlicher Teil von ihnen sind Selbstdarstellungen. Mehr als die Hälfte der bis zu Dreißigjährigen macht regelmäßig Fotos von sich. In den sozialen Medien, insbesondere auf Instagram, sollen Selfies bis zu zwei Drittel aller Bilder ausmachen.

Die Schwellen wurden niedriger, sobald man nicht mehr pro Bild zahlen musste – für den Film, für die Entwicklung, womöglich die Rahmung von Dias und derlei mehr – und nicht mehr lange warten musste, also seit der Digitalisierung der Fotografie: sofortiges Resultat, Löschen nach Belieben, Speicher für hunderte Fotos statt eines Films für 36.

Als Nächstes statteten Hersteller ihre Digitalkameras mit schwenkbaren Monitoren aus, damit man sich selbst leichter ablichten konnte – das sieht mittlerweile, obwohl keine zehn Jahre alt, auf Tourismuswerbeplakaten rührend antiquiert aus. Denn Smartphones mit Frontkamera können das auch und einfacher, mit dem Netz sind sie sowieso verbunden, also wozu dann überhaupt noch einen Fotoapparat extra?

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2001 erfand der Kanadier Wayne Fromm den Selfie-Stick. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis er sich durchsetzte. 2014 reihte 'Time' ihn unter die 25 besten Erfindungen des Jahres ein.
AP/Warren

Wenn Selfie-Enthusiasten etwas extra haben wollten, dann einen Stick. Auch der hat seine Vorgänger. Bereits vor 30 Jahren stattete Minolta eine Analogkamera mit einem Teleskopstab aus, nachzulesen im Buch 101 nutzlose japanische Erfindungen. Ganz so nutzlos war er nicht, nur seiner Zeit voraus. 2001 erfand der Kanadier Wayne Fromm ihn neu und patentierte ihn. Es dauerte dann allerdings ein weiteres Jahrzehnt, bis der Selfie-Stick sich durchsetzte. 2014 reihte das Time-Magazin ihn unter die 25 besten Erfindungen des Jahres ein.

In jenem Jahr begannen die Stangen als kuriose Beispiele für die "extensions of man", wie sie Marshall McLuhan vorschwebten, die Sehenswürdigkeiten dieser Welt zu versperren. Über Hauptplätze oder Brücken zu gehen oder an Palästen vorbei wurde zum Spießrutenlaufen. Es war auch das Jahr, in dem Museen anfingen, sie aus ihren Sälen zu verbannen, damit man nicht mit ihnen in wertvollen Leinwänden herumstochert bzw. die Sicht beeinträchtigt. (Entgegen einem Wikipedia-Eintrag ist auch das Kunsthistorische Museum in Wien eine No-Go-Area für Selfie-Stangen, so sehr man dort den Werbeeffekt in den sozialen Medien schätzen würde.)

Es gab genug weitere Gründe, den Sticks gegenüber skeptisch zu sein, vor allem angesichts immer waghalsigerer Selbstdarstellungen. Berühmt wurde eine Kampagne in Russland, die vor den Folgen solcher Aktionen warnte – bei Selfies vor Zügen oder von wahnsinnigen Balanceakten auf den Fahnenstangen und Sternen stalinistischer Hochhäuser kamen in den letzten Jahren Dutzende von zumeist jungen Männern ums Leben.

"Normalen" Benützern passiert so etwas nicht. Dafür haben andererseits ihre Inszenierungen vor egal welchen Sehenswürdigkeiten den Hauch des Besonderen, des Spannenden verloren. Sie werden langweilig. Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage unter Jüngeren ergab: Philipp (27) findet Selfie-Stangen "so peinlich, dass sie schon wieder gut sind"; Maria (16) möchte einen Stick nicht einmal geschenkt bekommen. Wir können davon ausgehen, dass die Verlängerung der Selbstdarstellung durch ein Staberl, auch Deppenzepter genannt, bald auf dem Abstellgleis der Moden landen wird wie der Hula-Hoop oder die Tamagotchis: etwas für Nostalgiker und Nischenbewohner.

Der Fluch des Lächelns

Selfies hingegen sind ungebrochen populär, das zeigt sich an den nüchternen Statistiken und daran, welch magische Anziehungskraft das Machen und Verschicken und das Anschauen von Bildern ausüben. Das Foto, das Ellen DeGeneres von sich und zehn anderen Schauspielern bei der Oscar-Verleihung vor zwei Jahren schießen ließ (siehe unten), wurde innerhalb weniger Monate fast dreieinhalb Millionen Mal retweetet. Filmstar und Produzent James Franco bekannte damals, selfiesüchtig zu sein, und stand zu seiner beachtlichen Sammlung auf Instagram: "Selfies sind eher Kommunikationswerkzeuge als Zeichen der Eitelkeit (aber es stimmt Letzteres auch ein wenig)." Die Definition von Celebritys – dass sie dafür berühmt sind, berühmt zu sein – sollte erweitert werden: und dass sie sich dafür ständig in Foto-Netzwerken ausstellen.

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Hollywood im Selfie-Fieber.
Reuters

Kaum jemand betreibt das so konsequent wie Kim Kardashian, Unternehmerin, TV-Show-Star und Model. Einen Gutteil ihrer Bekanntheit und damit ihres Einkommens verdankt sie dem unermüdlichen Bestreben, sich selbst in jedem Moment ihres nicht immer spannenden Alltags festzuhalten und ins Netz zu stellen. Eine Auswahl von mehr als 2000 Bildern erschien in Buchform unter dem kokett-ehrlichen Titel Selfish.

Politiker und sogar der Papst stehen ihrerseits unter dem Druck mitzumachen. Gemeinsam mit schwitzendem oder zwanghaft fröhlichem Volk in das Telefon zu lächeln gehört heute ebenso zum Geschäft, wie sich doofe Hüte aufzusetzen oder, je nach Kulturkreis, einen Humpen nach dem anderen zu leeren. Die Scharte, ein linkischer, altmodischer Kandidat zu sein, der nicht einmal weiß, warum seine Apple Watch zu ihm spricht, hat Jeb Bush wiederholt dadurch auszuwetzen versucht, dass er vor laufenden TV-Kameras Tipps gibt, wie man am besten Selfies macht.

Damit ist er in guter Gesellschaft: In Netzwerken wird geraten, sich eher von oben abzulichten, weil dann die Augen größer werden und das Kinn schlanker, und Kosmetikfirmen wie CoverGirl oder Avon entwickeln Make-up speziell für Smartphone-Bilder – wobei da Besonderheiten wie Blitz und verschiedenes Tages- und Kunstlicht einkalkuliert werden müssen. (Eine Herausforderung, weil die durchschnittliche Auflösung von Telefonbildern in den letzten acht Jahren von 0,2 Megapixel auf das mehr als Zwanzigfache gestiegen ist.)

Aber warum das alles? Wie erklärt man sich die Flut der Selfies, die Hartnäckigkeit, mit der viele von uns sie konsumieren und produzieren, die Bedeutung, die sie in der Öffentlichkeit, in der Popkultur, insbesondere in den sozialen Netzwerken haben? Es ist offensichtlich leichter geworden, sich zu inszenieren, aber ist es neu?

Einerseits wohl schon. Man kann sagen, dass dank des "Niederschwelligen" eine neue Qualität entstanden ist. Früher konnten Porträtbilder einen Lebenslauf ergänzen, heute sind sie fast dieser Lebenslauf. Wir haben nicht nur einen "iconic turn" mitgemacht, einen Wandel von der lesenden zur betrachtenden Öffentlichkeit; wir sind – folgt man den Ausführungen von Reichert oder von Kulturtheoretikern wie Hans Belting und Thomas Macho – auf dem Weg zur "facialen Gesellschaft".

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Der Papst tut es, Donald Trumpa auch, Angela Merkel und Barack Obama tun es. Das Selfie ist aus unserem Bild-Gedächtnis nicht mehr Wegzudenken.
Reuters

Das ist eine Gesellschaft, die, so Macho, "ununterbrochen Gesichter produziert. Das Menschengesicht erweist sich als ,Maß aller Dinge': gerade im Zeitalter der Enttäuschung humanistischer Hoffnungen." Man muss sein Gesicht nicht mehr wahren, man soll es zeigen, vorteilhaft, damit es auf dem Marktplatz der virtuellen Eitelkeiten im Vergleich mit unzähligen anderen Porträts besteht. Das wiederum bedeutet, wie Reichert schreibt, Anpassungsleistungen, "denn andere Nutzer entwickeln eine plattformspezifische Aufmerksamkeit für erfolgreiche Selfies und versuchen in der Folge, diese mimetisch auf ihr eigenes Selbstbild zu übertragen".

Die Art der Selbstinszenierung macht Selfies, dem New Yorker Kunstkritiker Jerry Saltz zufolge, zu einem neuen visuellen Genre. Zwar seien sie zumeist "albern, normiert und langweilig (...). Jungs lassen ihre Muskeln spielen, Mädchen ziehen Schnuten (,Duckface'), man kabbelt sich spielerisch mit anderen, signalisiert seine Gruppenzugehörigkeit oder posiert vor Denkmälern von Berühmtheiten."

Doch würde die Art der Entstehung Kontrolle und performatives Bewusstsein voraussetzen, "auch eine gewisse Selbstkritik und Ironie. Man stellt sein Selfie im klaren Bewusstsein online, dass es zeitnah und unmittelbar betrachtet wird, und wir, die Betrachter, wissen das. (Und der Fotograf weiß, dass wir es wissen.)" (Wobei man bei vielen Party-Selfies eher den Eindruck hat, dass sie nicht im klaren Bewusstsein online gestellt worden sind. Doch das ist eine andere Geschichte, die eher den Personalchef beim Betrachten der Facebook-Alben interessieren wird. Auch der US-Abgeordnete Anthony Weiner wird nicht bei kühlem Verstand gewesen sein, als er Bilder seines eher privaten Körperteils per Twitter-Account an andere Frauen als seine eigene verschickte und einmal versehentlich an seine 56.000 Follower.)

Saltz findet es schließlich faszinierend, dass das Genre Selfie nicht von Künstlern erfunden wurde, "sondern von uns allen", gewissermaßen eine Folklore, die das Vokabular der Fotografie erweitert hat. (Ein ebenfalls unkünstlerisches Genre hält der Fotohistoriker Anton Holzer für einen entfernten Vorläufer des Selfies: die Bildpostkarte, die an der Wende zum 20. Jahrhundert auftauchte. Ihre wesentliche Botschaft sei, schreibt Holzer Robert Musil zitierend, aus dem Urlaub geschickt zu behaupten: "Hier ist es schön." Dies weiterführend, könnte man die Botschaft vieler Selfies definieren als "Ich bin hier, und ich bin schön".)

Schauen wir nochmals in die Geschichte zurück auf mögliche Vorläufer der Selfies und darauf, welche heutigen künstlerischen Abzweigungen vom "albernen, normierten" Mainstream zu verfolgen sich lohnen. Sie waren umständlich. Man musste minutenlang stillsitzen, stundenlang entwickeln, man konnte nicht vervielfältigen und schon gar nicht auf die Schnelle teilen. Doch schon der Erfinder der Fotografie, Louis Daguerre, machte sehr bald von sich selbst Bilder. Der Wunsch, sein Gesicht in einem bestimmten Augenblick verewigt zu sehen, war wohl so stark wie der, Pariser Gassen des frühen 19. Jahrhunderts zu dokumentieren.

Parmigianino-Selfie der Künstlerin Dorothee Golz.
Foto: Dorothee Golz

Viel früher noch trieb dieser Wunsch Künstler an, zu einer Zeit, als der menschliche Körper, das Gesicht wieder autonomen Anspruch stellten, in der Renaissance. Für Florian Pollack, Kommunikationschef des Kunsthistorischen Museums, gibt es "ein erstes weltberühmtes Selfie, 500 Jahre bevor es soziale Medien gab": das Autoritratto von Girolamo Francesco Mazzola, genannt il Parmigianino. Der kleine Mann aus Parma war 21 Jahre jung, als er sein Selbstporträt im konvexen Spiegel malte, ein verblüffend modernes Bild, wie mit einem Weitwinkel aufgenommen, mit der großen linken Hand im Vordergrund, als würde sie einen Stick halten. Mit dem Bild überzeugte er Papst Clemens VII., ihn als Künstler anzustellen. Ein Gemälde also damals schon als Visitenkarte und Entréebillet; auch Künstler wie Dürer oder Rembrandt – Reichert weist auf sie hin – nutzten Porträts als Selbsterkundung und zur Selbstvermarktung.

Neue alte Meister

Unter sich ändernden Bedingungen blieben Kunstschaffende über Jahrhunderte diesen Absichten verbunden, wenn sie sich selbst zum Thema machten. Bis in die Moderne erkunden sie mit Pinsel, Kamera oder Mixed Media ihr Spiegelbild als Experimentierfläche. Die National Portrait Gallery in London etwa zeigt an Arbeiten von Lucian Freud, Chris Ofili, David Hockey, R. B. Kitaj und anderen, wie weit gefasst, bis zur Unbarmherzigkeit, Selbstdarstellungen geraten können.

In einer Abteilung des Museums, "The Naked Portrait" genannt, ist eine Arbeit der Young British Artist Sarah Lucas zu sehen: Sie verfertigte eine subtile Unterwanderung des Klischee-Motivs Mädchen macht Toilette: In dem Selbstauslöserbild sitzt sie auf der Toilette und hält den Spülkasten in den Armen. Das buchstäblich Selbstreflexive machte Helen Chadwick im Foto Vanitas II zum Thema: Sie hat sich, halbnackt und sich in einem Spiegel anblickend, aufgenommen – Objekt des Betrachters und zugleich ihn herausfordernd. Daneben noch Gilbert & George, Lennon & Ono: weitere Beispiele künstlerischer Selbstentblößungen.

Die Welt nur durch Selfies zu betrachten ist manchmal eine triste Angelegenheit.
Foto: Reuter/mcdermid

Da sie keine Britin ist, ist Cindy Sherman in dieser Nationalgalerie nur in einer Spezialausstellung zu sehen. Doch sie hat das Medium Fotografie wie kaum sonst jemand systematisch zur Darstellung von Rollen, Genres (Filmstills! Alte Meister! Ladies who lunch!), Fantasien und Identitäten genutzt. In allen ihren Selbstbildern wird sie zur fiktiven Person, hinter der sich eine wahre Cindy verbergen mag – oder auch nicht. Eigentlich das Gegenteil der meisten Selfies, deren Autoren sich bloß überhöhen wollen, und zugleich eine Antizipation dessen, was rollenspielende Künstler nunmehr ausloten: die Möglichkeiten, mit dem digitalen Netzwerk zu spielen.

Sherman arbeitet noch mit Kostümen, Schminke, Perücken, Kulissen, um schillernde Effekte auf Hochglanzreproduktionen zu erzielen. Nina Katchadourian setzt sich im Flugzeug nach Auckland auf die Toilette, drapiert ein papierenes Klobrillen-Cover auf ihren Kopf und drückt auf ihr iPhone – voilà "Flämischer Meister des 15. Jahrhunderts" (eine Fotoserie ab 2010). Na ja, nicht ganz, aber wie die amerikanische Fotografin (für die L.A. Times "endearing, goofy, earnest, witty, subversive, penetrating") die Grenzen der konventionellen Ich-Fotos sprengt, zeigt das deren brachliegende Möglichkeiten.

Die aus Argentinien gebürtige Medienkünstlerin Amalia Ulman ging einen Schritt weiter, als sie beschloss, die Frage nach der Authentizität der im Netz herumgeisternden Selbstdarstellungen radikal negativ zu beantworten. Unter dem Titel Excellences & Perfections begann sie 2014, Fotos von sich auf Instagram hochzuladen, den üblichen eitlen Kleinkram zunächst. Doch dann mutierte ihre visuelle Autobiografie zu einem monatelangen Drama, das die damals 24-Jährige zum Pole-Dancing und zur Brustvergrößerung nach L.A. brachte, in die Arme eines reichen Gönners. Sie zeigte sich als offenherziges It-Girl, als Drogenabhängige, schließlich auf Entzug und nunmehr auf Yoga und Fruchtsäften. Freunde und fast 90.000 Follower waren verblüfft bis entsetzt – und das nicht weniger, als sich herausstellte, dass sie ihre Foto-Odyssee erfunden und zu Hause wie eine Fortsetzungsgeschichte arrangiert hatte. "Mit der Fiktion online und in der Sprache des Internets zu experimentieren", beschrieb Ulman ihre Strategie.

Kann man noch konsequenter fragen, wessen Geschichte im Netz echt ist und wem sie gehört, was Freizeitvergnügen ist und was Kunst? Man kann es zumindest versuchen und so angehen wie Richard Prince, ein Meister der Appropriation-Art. Seine Form der Aneignung im Dschungel der Selfies ist weder als Hommage zu verstehen noch als "kritische Hinterfragung". Sie sollte am besten ganz lapidar gedeutet werden: Es ist Kunst, weil ich es sage und die Leute es kaufen. Prince machte Fotos von Fotos, die Leute von sich gemacht und auf Instagram geladen hatten. Und seine Galerie verkauft sie seit zwei Jahren um bis zu 90.000 Euro. Was hier deutlich wird – und was vielleicht mehr interessiert als die Frage, ob "das denn noch Kunst" sei –, ist, wie auf der riesigen Spielwiese der Selfies die Kontrolle über das eigene Gesicht verlorengehen kann.

Das wissen wir seit längerem. Doch im Grunde ist uns unsere Lage angesichts unserer Bilder noch so unklar, wie es die Deutungen des Narziss-Mythos nahelegen. Erkennen wir ein Gegenüber in unserem Selbst? Wollen wir, unsicher, wie wir sind, uns der eigenen Attraktivität vergewissern? Oder stören uns die Wellen, die unser Bild verzerren, brechen und nach außen tragen – heute vielleicht die elektromagnetischen Wellen? Wir lesen die Nutzungsbedingungen nicht und klicken auf Okay. Noch ein Klick, nächstes Selfie.

(Text: Michael Freund, Produktion: Sebastian Pumberger)