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Wales um Skipper Sam Warburton ist nach drei Partien der Six Nations zwar noch ungeschlagen (zwei Siege, ein Remis). Um im Rennen um den Titel zu bleiben, muss der Rekordsieger (38) am Samstag jedoch in England gewinnen, denn der Tabellenführer steht noch ohne Verlustpunkt da.

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Bergbau gibt es in Wales schon lange nicht mehr, die kostümierfreudigen Rugby-Anhänger jedoch halten die Erinnerung an die Kumpel aufrecht.

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STANDARD: Wann kam Rugby nach Wales, wer spielte – und wo?

Prescott: Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Man ist sich aber weitgehend einig, dass Old Boys englischer und schottischer Privatschulen das Spiel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ins Land brachten. Das waren sowohl Waliser, aber auch Zuwanderer aus anderen Teilen Großbritanniens, denen die boomende Wirtschaft in Süd-Wales attraktive Möglichkeiten bot. Die ersten Klubs entstanden in den 1870er Jahren, gut 20 Jahre später als in anderen Teilen des Königreichs. Die ersten Spieler kamen also hauptsächlich aus der Mittel- und Oberschicht.

STANDARD: War denn Rugby in Wales nicht ein Spiel der Arbeiterschaft?

Prescott: Mit einer solchen Aussage wäre ich nicht ganz einverstanden. Es war seit den 1880er Jahren ein Sport, für den sich Menschen aus allen Klassen interessierten. Das ist einer seiner erfreulichsten Charakterzüge. Zunächst spielte zwar, wie gesagt, eine soziale Elite, aber es dauerte nicht lange, bis Rugby von der Arbeiterklasse enthusiastisch für sich reklamiert wurde. Wichtig war hier die Einführung des South Wales Challenge Cup 1877/78. Der Bewerb dockte an die aufkommende wirtschaftliche und politische Rivalität zwischen den Städten und Dörfern der Region an, das Publikumsinteresse war enorm. Zu Beginn der 1890er Jahre gab es allein in und um Cardiff über 200 Klubs. Und wenn diese Erfolg haben wollten, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als die Mitgliedschaft für Arbeiter zu öffnen.

STANDARD: Wales erscheint manchmal wie ein europäisches Neuseeland. Sowohl die Größe, was die Einwohnerzahl betrifft, als auch die Passion für Rugby erscheinen vergleichbar. Wie konnte das Spiel solch einen Status erlangen?

Prescott: In Wales kam es im Unterschied zu England nie zu einem Bruch innerhalb des Sports. Dort spalteten sich 1895 die meisten Vereine aus dem Norden ab und folgten fortan ihrem eigenen Code, dem späteren Rugby League. Auslöser war die strikte Ablehnung des Professionalismus durch den englischen Verband. Dadurch ging Rugby Union in England ein großer Teil der seiner Anhängerschaft unter den Arbeitern verloren. In Wales hingegen behielt das Spiel seinen klassenübergreifenden Charakter und blieb so für weite Teile der Bevölkerung attraktiv.

Seine Popularität stärkte außerdem das sich in dieser Zeit verstärkt manifestierende Bewusstsein von einer eigenständigen walisischen Kultur, vielleicht sogar einer eigenständigen Nation. Auf dem Spielfeld konnte das kleine Wales mit dem viel größeren und mächtigeren englischen Nachbarn erfolgreich konkurrieren. Bis heute ist die Bilanz des walisischen Nationalteams gegen England ausgeglichen. Das ist etwas, worauf die Waliser stolz sein können. Bis zur Professionalisierung 1995 waren ihre Klubs die stärksten in Großbritannien. Aufgrund des viel geringeren Potentials der walisischen Wirtschaft kann man seither mit den finanzkräftigen französischen und englischen Vereinen aber nicht mehr mithalten.

STANDARD: Warum Rugby und nicht Fußball?

Prescott: Es hat sich einfach früher und schneller etabliert und in der Gesellschaft feste Wurzeln geschlagen. Deshalb ist der Cardiff RFC 25 Jahre älter als Cardiff City FC. Deshalb steht mit dem Principality Stadium, dem ehemaligen Arms Park, ein Rugby-Stadion mitten in der Stadt, und nicht eine Fußball-Arena. Rugby ist, zumindest in historischer Sicht, ein charakteristisches Merkmal der walisischen Populärkultur geworden; unsere Passion für das Spiel ist wichtig für die Wahrnehmung, was es heißt, walisisch zu sein. Und nicht etwa englisch. Der Rugby-Klub hat immer noch einen zentralen Platz in vielen Gemeinden, speziell in den Valleys und im ländlichen Raum. Das Klubhaus ist in den Ortschaften dort ein sozialer Treffpunkt geblieben.

STANDARD: Wie hat sich die sehr spezielle Rivalität zu England entwickelt?

Prescott: Die geht ja weit über Rugby hinaus. England ist das einzige Land mit dem wir eine gemeinsame Grenze haben. Bei Wales gegen England holt man die alte Geschichte von den "Kelten", die ihre Heimat gegen die "angelsächsischen" Invasoren verteidigen, immer wieder hervor. Es ist eine Variante von David gegen Goliath. Dazu kommt die Wahrnehmung einer gewissen englischen Herablassung, das Gefühl, bevormundet zu werden. Einem Sieg über die Engländer wird zwar, nüchtern betrachtet, wohl manchmal zu viel Bedeutung beigemessen. Doch es lässt eben nichts die Herzen höher schlagen, als die Erwartung dieses Ländermatches. Am Ende ist es einfach eine Hetz, auch wenn die Leidenschaften nach wie vor hoch gehen. Aus englischer Sicht mag das alles als walisischer Minderwertigkeitskomplex interpretiert werden.

STANDARD: Die 1970er Jahre erlebten eine Hochblüte im walisischen Rugby. Das Nationalteam dominierte in Europa, gewann in diesem Jahrzehnt acht Mal die damaligen Five Nations und begeisterte dabei mit fulminantem Offensivspiel. Gleichzeitig befanden sich die traditionellen Industrien (Kohle, Stahl) in tiefer Krise. Wie ist diese Ungleichzeitigkeit erklärbar?

Prescott: Als Historiker muss ich sagen, die 70er waren nicht unbedingt die beste Phase der Waliser. Schließlich nannte man diese Ära das "zweite goldene Zeitalter". Die erste, das waren die Jahre von 1900 bis 1911. Man war ähnlich dominant, und nach dem Sieg über die tourenden Neuseeländer 1905, betrachtete man Wales als Gewinner der inoffiziellen Weltmeisterschaft. Die Zahl der Spieler aus der Arbeiterklasse war schon lange vor den 1970ern stetig zurückgegangen. Stattdessen standen immer mehr Spieler im Nationalteam, die man soziale Aufsteiger in der Ära des Wohlfahrtsstaates bezeichnen kann. Viele waren Nutznießer des seit den 1950ern stark ausgebauten Bildungssystems. Während es in der walisischen XV nun also weniger Bergarbeiter gab, stieg der Anteil an Lehrern und anderen Professionalisten.

STANDARD: Und die sportliche Dimension?

Prescott: Nun, zweifellos gab es da eine Gruppe hochtalentierter Spieler – so wie übrigens auch jetzt gerade. Eine Hochphase im ewigen Kreislauf des Auf und Ab. Dazu kam, dass die Qualitäten der Waliser in einem hochstehenden nationalen Wettbewerb geschärft wurden, wie es ihn in dieser Form nirgendwo anders in Großbritannien gab. (In England wurde erst 1987 ein landesweites Ligasystem etabliert, Anm.). Die Waliser waren damals in mehrfacher Hinsicht Vorreiter. So waren sie etwa auch die ersten, die Coaching sowohl auf Klub-Ebene, wie auch dann im Nationalteam ernsthaft betrieben. Etwas, das in konservativen Kreisen lange verpönt war, da es dem Ethos des Spiels zuwiderlaufen würde. Der Erfolgslauf endete 1979 und es waren eigentlich die 1980er, in denen Wales unter der De-Industrialisierung und einer chronisch hohen Arbeitslosigkeit litt.

Die ein Jahrzehnt dauernde Vormachtstellung des walisischen Nationalteams ab den späten 1960er Jahren fiel mit der Einführung des Farbfernsehens zusammen. Das mag dazu beigetragen haben, dass für viele die ewig jungen Bilder von verwegen ausschwärmenden roten Shirts eine ikonische Qualität annahmen. Ein besonderer Favorit des Publikums war der trickreiche Phil Bennett. Der blitzschnelle Sidestep war sein Markenzeichen.
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STANDARD: Wie kann man den Stil dieser Teams um Legenden wie Gareth Edwards, Phil Bennett oder JPR Williams, der in seinen zehn Matches gegen England nie auf der Verliererseite stand, beschreiben?

Prescott: Sie bauten auf ein starkes, hartes Pack (die acht Forwards, Anm.) in Kombination mit hochbegabten Weltklasse-Backs. Letztere bestachen durch ihr dynamisches Kombinationsspiel. Insofern blieben die Mannschaften der 70er einer walisischen Tradition treu. Das Passspiel der Three-quarters (die beiden Flügel, sowie beiden Center, Anm.) ist schließlich in den 1880ern hier erfunden worden. Das "walisische Spiel" war also bereits damals sowohl erfolgreich, als auch attraktiv anzusehen – mit ein Grund für die erfolgreiche Popularisierung des Sports in der Frühphase.

STANDARD: 2003 kam es zu einer tiefgreifenden Neuordnung im walisischen Rugby. Es wurden vier Regional-Teams geschaffen, die mit Profi-Outfits aus Irland, Schottland und Italien in einer internationalen Liga, der Pro12, zusammengespannt sind. Ein geschlossener Klub ohne Auf- oder Abstieg. Die traditionsreichen Vereine wurden zu Zulieferern ihrer jeweiligen Region degradiert. Eine unvermeidliche Konsequenz im Zeitalter des Professionalismus?

Prescott: Ich habe die Idee zuerst unterstützt. In dieser neuen Ära waren wir einfach nicht mehr in der Lage, zehn oder zwölf Top-Teams zu unterhalten, so wie zuvor. Allerdings zeigt sich, leider, dass das Konzept nicht wirklich aufgegangen ist. Die Regionen werden nicht auf die gleiche, leidenschaftliche Art unterstützt, wie die alten Klubs. Auswahlmannschaften dieser Art waren hier nie populär. Wir hängen offenbar stärker am lokalen Verein. Insofern sind wir ein bisschen provinziell, und das Konzept der Region passt daher nicht richtig. Allerdings, angesichts der ökonomischen Realitäten war es unausweichlich, dass berühmte Klubs wie Pontypool, Llanelli oder Neath ihr Standing nicht würden halten können.

STANDARD: Wie geht es dem walisischen Rugby heute, ist es gesund?

Prescott: Es war schon einmal besser. Das Nationalteam hält sich im Allgemeinen gut. Man darf ja nicht vergessen, wir sind ein kleines Land mit gerade drei Millionen Einwohnern. Über die Regionen haben wir bereits gesprochen, sie sind nicht sonderlich erfolgreich. Und es gibt erhebliche Sorgen an der Basis, wo so mancher Klub um Spieler und Geld kämpfen muss. Hier muss es viel mehr Unterstützung geben, soviel ist klar. Dazu kommt, dass es immer schwerer wird, sich gegen den scheinbar unaufhaltsamen, weltweiten Vormarsch des Fußballs zu behaupten, der mittlerweile auch medial so stark dominiert.

STANDARD: Was bedeutet das Spiel gegenwärtig für das Land? Wäre es übertrieben zu behaupten, dass Rugby bis zu einem gewissen Grad seine Reputation auf internationaler Bühne prägt?

Prescott: Schwer zu wissen, welchen Ruf Wales in der Welt draußen hat. Neben Männerchören, nonkonformistischen Kirchen und dem Kohlebergbau ist Rugby wohl eines der nationalen Klischees – und nicht einmal ein ganz zutreffendes. Aber andererseits, Cardiff an einem Spieltag der Six Nations? 70.000 im Stadion, noch einmal mehr als doppelt so viele, die das Match irgendwo anders in der Stadt verfolgen. Es muss doch immer noch etwas bedeuten. (Michael Robausch, 8.7. 2016)

Der letzte Fischzug der Waliser in Twickenham, der Höhle des Löwen, datiert vom 27. September 2015. Da wurde England im Rahmen der Weltmeisterschaft in dramatischer Manier mit 28:25 bezwungen.
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Zum Thema: Six Nations – Groß und stark ist nicht mehr schön

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Link: Six Nations, Tabellenstand