Die Regierung, Kanzler Faymann (rechts) und sein Vize Mitterlehner, wollen das Asylrecht verschärfen.

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"Alternativlos" – ein Wort macht die Runde. Neuerdings in Zusammenhang mit dem Vorhaben der Bundesregierung, sich zu einer Verordnung ermächtigen zu lassen, die de facto das Asylrecht in Österreich außer Kraft setzen würde: Bei einem neuerlichen Massenansturm würde solcherart die Grenze völlig dichtgemacht, Flüchtlinge würden gar nicht erst eingelassen und würden – von extremen und extrem seltenen Ausnahmen abgesehen – ohne Verfahren ruck, zuck dem Nachbarstaat "zurücküberstellt".

Welcher Maßstab?

Ob das überhaupt zulässig ist, darüber streiten die Rechtsgelehrten. Das ausführliche Gutachten dazu, streckenweise abgedruckt im Regierungsentwurf, bejaht das zwar – ist aber bei näherem Hinsehen just an entscheidenden Stellen mit recht eiliger Nadel und ziemlich dünnem Garn genäht. Jedenfalls aber, darüber sind sich alle einig, müssten schon ganz erhebliche Teile der Verwaltung in Österreich (und nicht bloß die eine Behörde, die für das Asylwesen zuständig ist) vom Zusammenbruch bedroht sein, um von jener Notlage sprechen zu können, die das Sistieren des Asylrechts – möglicherweise – zulässig machen könnte.

Aber nach welchen Kriterien soll ihr Vorliegen verlässlich beurteilt werden? Würde ein neuerlicher Massenansturm von Geflohenen tatsächlich, wie die Bundesregierung behauptet, automatisch die "staatlichen Einrichtungen und öffentlichen Dienste nicht nur weiter beeinträchtigen, sondern diese vollends zum Erliegen bringen"? Nota bene: Hier geht es nicht darum, ob die Wohnbevölkerung mehrheitlich der Meinung (!) ist, es sei "genug" und "kein Platz mehr", hier geht es um Fakten. Fakten allerdings, die so noch nie zur Voraussetzung für ein Gesetz gemacht wurden. Welchen Maßstab legen wir an?

Der Turing-Test

Der britische Mathematiker Alan Turing hat einst einen Blindtest vorgeschlagen, in dem ein "Gespräch" zwischen einem Menschen und einer Maschine nur auf einem Bildschirm verfolgt werden kann. Kann ein Beobachter dieses Gesprächs beim besten Willen nicht mehr sagen, wer Mensch und wer Maschine ist, hat Letztere den Test bestanden: Sie hat künstliche Intelligenz.

Wie wäre es mit einem gedanklichen Turing-Test in Sachen "Asylnotstand"? Nehmen wir an, 100.000 Bewohner der Stadt Graz hätten nach einem schlimmen Chemieunfall in andere Bundesländer fliehen müssen, um in Sicherheit zu sein. Alle, wohlgemerkt. Die hochgebildeten und die sekundären Analphabeten. Die vielen Unbescholtenen, aber auch die mit elendslangem Strafregister. Samt der vielen testosterongesteuerten männlichen Jugendlichen und ein paar Möchtegernjihadisten, die statistisch gesehen unter diesen 100.000 Grazern einfach auch zu erwarten wären.

Nicht mehr können – oder wollen?

Wir hätten sie untergebracht. Alle. Wahrscheinlich weit schneller und besser als die realen Flüchtlinge, aber das sei hier dahingestellt. Denn die eigentliche Frage ist: Wenn sich nun herausstellte, dass der Rest der Stadt Graz auch evakuiert werden müsste, was wäre dann? Zweifellos: So ein neuerlicher Ansturm wäre eine Riesenherausforderung für das restliche Österreich. Müssten diese Flüchtlinge aus Graz genauso administriert werden wie Syrer oder Afghanen, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – ohnehin schwer geplagt durch unzählige dysfunktionale Behördenreformen und Gesetzesnovellen – wäre tatsächlich über Monate überfordert.

Aber würde das gleich die "innere Sicherheit" und die "öffentliche Ordnung" gefährden? Wären also das Finanzamt Innsbruck und die Bezirkshauptmannschaft Mödling wirklich überlastet? Könnte die Wiener Baupolizei keine Bescheide mehr erlassen, die Lebensmittelpolizei in Eisenstadt keine Marktstände mehr überprüfen? Würden Österreichs Bundesländer ihre Grenzen dichtmachen und alle Grazer wieder zurückschicken? Jede Bundesregierung, die das vorschlüge, wäre wohl innerhalb von Stunden aus dem Amt gejagt.

Worum geht es also? Darum, dass wir – wir alle, unser gesamter Staat – nicht mehr können, oder aber, dass wir einfach nicht mehr wollen? Denkt man den Asyl-Turing-Test zu Ende, drängt sich die zweite Antwort ziemlich heftig auf.

Ein Armutszeugnis

Das ist allerdings mehr als eine bloße Gedankenspielerei: Ein Nicht-mehr-Wollen reicht nämlich in rechtlicher Hinsicht ganz ohne Zweifel nicht (!) aus, um jenen Notstand annehmen zu können, der unerlässlich wäre, um das Asylrecht außer Kraft setzen zu dürfen (sofern das überhaupt rechtlich möglich ist). Dazu bräuchte es in jedem Fall ein Nicht-mehr-Können, unabhängig von der Herkunft der Betroffenen. Liegen die Voraussetzungen für dieses Nicht-mehr-Können österreichweit und in der gesamten Verwaltung nicht vor, dann darf der Notschalter, den die Bundesregierung sich jetzt wünscht, nicht umgelegt werden. Das, so sehen es auch die für die Bundesregierung freundlichsten Gutachter, ist österreichische und europäische Rechtslage.

Das Problem ist also: Die Behauptung der Bundesregierung, die Aufnahme von noch einmal 90.000 Flüchtlingen in Österreich würde das gesamte Staatswesen, unsere ganze Verwaltung gefährden, sie ist ein fürchterliches Armutszeugnis. Wenn es wirklich "alternativlos" ist, vor diesen Menschen die Grenze völlig dichtzumachen, erhebliche Teile des Kernbestands europäischen Rechts über Bord zu werfen, dann richtet uns unsere Regierung gerade aus: Wir haben auf ganzer Strecke versagt. Vielleicht denkt sie doch noch einmal über Alternativen nach. (Georg Bürstmayr, 14.4.2016)