Nach dem Wahltag sind Wählerstromanalysen überall. Die Grafikabteilungen vieler Medien freuen sich über das hübsche Gewirr bunter Pfeile, die Parteien grübeln über ihre Verluste an die Konkurrenz, und das restliche Publikum staunt darüber, wie mit solcher Präzision die Wanderung von Stimmen nachvollzogen werden kann.

Wie aber funktionieren Wählerstromanalysen?

Zuallererst ist es entscheidend festzuhalten, dass Wählerstromanalysen nicht auf der Grundlage von Befragungen erstellt werden, sondern auf Basis der ausgezählten Gemeinde- beziehungsweise Sprengelergebnisse (sie können also niemals Aufschluss über Wahlmotive geben – das geht nur mit Befragungen). Die Logik ist dabei wie folgt: Wenn Partei A dort zulegt, wo bei der vorigen Wahl Partei B stark war, dann wird das als Stimmenwanderung von B zu A interpretiert (wobei Nichtwähler natürlich auch berücksichtigt werden).

Dazu muss man einige (hehre) Annahmen treffen. Zum Beispiel die Annahme, dass die Wahlberechtigten bei den beiden Wahlen, die man vergleicht, dieselben Personen sind (Todesfälle und neu hinzugekommene Wahlberechtigte werden also gleichgesetzt). Außerdem wird angenommen, dass die wahlberechtigte Bevölkerung in den Gemeinden und Sprengeln von einer Wahl zur nächsten ident bleibt. Wenn etwa ein Seniorenheim in ein Studentenheim umgewandelt wird, dann schlägt sich das in der Wählerstromanalyse als Stimmenwanderung (wohl von SPÖ zu Grünen) nieder, selbst wenn niemand der Beteiligten sein Wahlverhalten ändert. Zu guter Letzt kann man Wählerstromanalysen nur bei vergleichbaren Sprengel- und Gemeindegrenzen durchführen – ein Problem, das etwa durch Neuziehung der Sprengelgrenzen vor der Wiener Wahl 2015 entstand (siehe dazu hier).

Wiewohl man auch Wählerströme zwischen den Nationalratswahlen 1945 und 2013 berechnen könnte, werden mit größerem Abstand zwischen den Wahlen diese Annahmen immer weniger vertretbar. Ein Idealfall wäre allerdings etwa der Vergleich zwischen den beiden Wahlgängen bei einer Bundespräsidentschaftswahl, da hier die Fiktion einer identen Wählerschaft nahe an der Wirklichkeit liegt.

Wenn wir also bereit sind, all diese Annahmen im Großen und Ganzen zu akzeptieren, dann können wir methodisch weiter ins Detail gehen.

Beginnen wir mit der ersten Grafik. Hier sehen wir, wie der Stimmenanteil Norbert Hofers bei der Wahl am vergangenen Sonntag mit jenem der FPÖ bei der Nationalratswahl 2013 korreliert (jeder Punkt stellt einen Bezirk dar). Wenig überraschend war Hofer dort besonders stark, wo die FPÖ 2013 ihre Hochburgen hatte. Wichtig ist, dass hier nicht der Anteil an den gültigen Stimmen, sondern an allen Wahlberechtigten gezeigt wird. Nur so können wir Wählerströme aus dem und ins Lager der Nichtwähler schätzen.

Durch diese (und jede andere) zweidimensionale Punktwolke kann man eine Gerade legen, die die Punktwolke am besten beschreibt. Genauer gesagt ermittelt man jene Gerade, die die Summe der quadrierten vertikalen Abstände zwischen den Punkten und der Geraden minimiert.

Wie man aus dem Mathematikunterricht vielleicht noch weiß, kann jede Gerade im zweidimensionalen Raum mit einer simplen linearen Funktion beschrieben werden:

y = k * x + d

Die Variable k gibt die Steigung der Geraden an: Wenn man auf der x-Achse um 1 nach rechts geht, erhöht sich der y-Wert um k. Die Konstante d beschreibt jenen Punkt, an dem die Gerade die y-Achse schneidet.

Für die obige Grafik ergibt sich so folgende Funktionsgleichung:

Hofer16 = 1,30 * FP13 + 0,05

Die 0,05 drücken aus, dass die Gerade die y-Achse bei etwa 5 Prozent schneidet, was auch in der Grafik gut ersichtlich ist. Das ist die mathematisch bestmögliche lineare Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Hofer 2016 und FPÖ 2013 auf Bezirksebene.

Nun können wir diese Funktionsgleichung natürlich erweitern und auch die Stimmenanteile der anderen Parteien auf der rechten Seite der Gleichung eintragen. Schematisch schaut das dann so aus:

Hofer16 = k1 * SP13 + k2 * VP13 + k3 * FP13 + k4 * GR13 + k5 * TS13 + k6 * NE13 + k7 * BZ13 + d

Die k-Werte werden auch Koeffizienten genannt und hier als Übergangswahrscheinlichkeiten von der jeweiligen Partei zu Norbert Hofer interpretiert (die Konstante d enthält den Wert für die Nichtwähler). Mit dem Verfahren der multiplen linearen Regression können wir die k-Werte schätzen:

Die Interpretation dieser Werte erfolgt danach wie aus der Wählerstromanalyse bekannt: 44 Prozent der SPÖ-Stimmen von 2013 sind zu Norbert Hofer gewandert, ebenso 40 Prozent der ÖVP-Stimmen (beide Werte sind wohl deutlich zu hoch) und 83 Prozent der FPÖ-Stimmen. Für die Grünen, die Neos und die Nichtwähler liegen allerdings negative Koeffizienten vor. Diese sind mathematisch nicht sinnvoll interpretierbar (-4 Prozent der Grün-Stimmen ist ja keine sinnvolle Größe). Ebenso wären Werte größer 1 schwer zu deuten.

Um sinnvolle Koeffizienten (also im Wertebereich zwischen 0 und 1) zu erhalten, gibt es mehrere Möglichkeiten. Die Sora-Wählerstromanalyse unterteilt die Daten etwa nach Gemeindegröße oder Parteistärke, um dieses Problem in den Griff zu bekommen (ein anschauliches Beispiel dafür lässt sich hier ab Seite 148 nachlesen). Der Statistiker Erich Neuwirth verwendet für seine Wählerstromanalysen ein statistisches Verfahren, das nur Koeffizienten zwischen 0 und 1 erlaubt (und unter anderem auch Schwankungsbreiten für die Wählerströme ermitteln lässt).

Wie so oft erzielen unterschiedliche Methoden auch unterschiedliche Resultate. Hier ein Vergleich der Wählerströme von Erich Neuwirth und Sora für die Nationalratswahl 2013:

Die Korrelation zwischen den Werten ist extrem hoch (r = 0,99), jedoch gibt es systematische Unterschiede. Die Werte im hohen Bereich (das sind die Behalteraten der Parteien, also wie viele Stimmen bei einer Partei verbleiben) sind bei Sora immer etwas niedriger als bei Erich Neuwirth. Im Umkehrschluss werden kleine Stimmenwanderungen von Sora tendenziell höher geschätzt.

In der politikwissenschaftlichen Forschung werden Wählerstromanalysen übrigens recht wenig verwendet. Ein Grund dafür ist, dass ihre Validität nur schwer überprüft werden kann. Dazu bräuchte man Panelbefragungen – also Befragungen derselben Gruppe von Wählern bei beiden Wahlen. Viele Sozialwissenschafter begegnen Wählerstromanalysen deswegen mit einer gewissen Skepsis. Auch, weil immer die Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses vorliegt.

Für Politikinteressierte ist also folgende Gebrauchsanweisung ratsam:

  1. Vorsichtige Interpretation: Wählerströme von Partei A zu Partei B sagen uns nicht unbedingt etwas über das individuelle Wahlverhalten, sondern legen nahe, dass Partei B dort stark abgeschnitten hat, wo letztes Mal Partei A ihre Hochburgen hatte.
  2. Unsicherheiten mitdenken: Der Unterschied zwischen einer Wanderung von 30.000 Stimmen und einer von 60.000 kann rein aufgrund von methodologischen Entscheidungen oder Änderungen in der Zusammensetzung von Gemeinden und Sprengeln zustande kommen. Kleinere Werte soll man also nicht überinterpretieren, sondern das Augenmerk auf die großen Ströme legen.
  3. Keine Motive unterstellen: Wählerstromanalysen sind ein rein beschreibendes Werkzeug und liefern keine Auskunft über das Warum. Das geht nur mit Umfragen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 27.4.2016)