Der Schulweg ist nicht nur ein Weg von A nach B – er ist die Möglichkeit kindlicher Weltaneignung.

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Es war eine dieser Meldungen, die direkt ins Angstzentrum fahren – wenn man Kinder im Schulalter hat: Da stirbt ein zehnjähriges Mädchen in Wien-Simmering auf einem Radweg, weil es ein Lkw-Fahrer beim Abbiegen übersehen hat. Es war einer der ersten warmen Montage in diesem Mai, es war halb acht in der Früh, das Mädchen hatte alles richtig gemacht. Mit dem Fahrrad war es unterwegs in die Schule, kannte den Schulweg gut, war eine geübte Radfahrerin.

Derselbe Tag, dieselbe Stunde, eine andere Ecke: Vor dem privaten Gymnasium Lycée Français in der Wiener Liechtensteinstraße tobt der Morgenverkehr. Die Blechlawine stottert, staut und kommt schließlich zum Erliegen. Alles steht jetzt in morgendlicher Anspannung, erstarrt in rasendem Stillstand.

Kinder reißen Autotüren in Richtung der Fahrbahn auf, hüpfen aus den Wagen, queren blindlings die Straße, streben im Eilschritt der Schule zu. Die Autos mit den Eltern am Steuer fahren irgendwann weiter; noch energischer als vorher, es gilt, Zeit gutzumachen. Wenigstens ihre Kinder wissen die Eltern jetzt sicher in der Schule – eine Sorge weniger.

"Der Schulweg ist eine der ersten großen Reisen ins soziale Leben", sagt der Grazer Erziehungswissenschafter und Universitätsprofessor Rudolf Egger. "Er ist der Schnittpunkt zwischen Schule und Familie: Du bist raus aus der Familie, aber noch nicht in der Schule." Egger beschäftigt sich wissenschaftlich damit, was der Schulweg für die "Welterfahrung" von Kindern bedeutet.

Mit eigenen Augen

Welterfahrung – das klingt bedeutungsvoll und ein bisschen pathetisch. Doch der Schulweg ist nichts weniger als das: Er ist eine der ersten Möglichkeiten für Kinder, autonom zu erfahren, wie sich ihre Welt und ihre Umwelt für sie gestalten, räumlich und sozial.

Für viele Kinder ist der Schulweg die erste weitere Strecke, die sie ohne Eltern zurücklegen. Viele sehen da die Welt das erste Mal gewissermaßen mit eigenen Augen anstatt durch die Brille oder die Frontscheibe der Eltern. Sie erfahren sich als selbstständige Menschen, sind verantwortlich für sich und das Gelingen eines Prozesses.

"Der Schulweg ist eine eigene Welt des Lernens mit kleinen und großen Gelegenheiten, sich die Welt anzueignen", sagt Egger. "Er ist eine Ressource zur Lebensbewältigung für Kinder." Dass Kinder diese Ressource nutzen können, funktioniert aber nur, wenn man sie lässt. Doch genau das fällt vielen Eltern heute schwer.

"So manche Mutter, so mancher Vater würde in der Früh am liebsten mit dem Auto bis in die Aula der Schule fahren, um die Kinder abzugeben", sagt Egger. "Das ist zugleich beschützend und bevormundend." Dahinter stecke freilich keine böse Absicht, sondern elterliche Verunsicherung und der Versuch von allumfassender Fürsorge.

Egger erzählt von Eltern, die ihren achtjährigen Kindern eine Ortungs-App aufs Handy laden, damit sie immer wissen, wo diese sind und sie in Echtzeit überwachen können. Er erzählt von Kindern, die ihre Eltern anrufen müssen, wenn sie das Schultor passieren – Entwarnung geben. Verunsicherung ortet Egger vor allem in der Mittelschicht: "Für viele Eltern ist es schwer, ihre Kinder überhaupt noch auszulassen. Weil sie Angst haben – Angst vor dem Verkehr, der Infrastruktur, den Versuchungen."

Paradoxerweise besteht die morgendliche Blechlawine vor so mancher Schule aber zu einem guten Teil aus den Autos jener Eltern, die ihre Kinder vor dem Verkehr schützen wollen. Diese Entwicklung beobachtet man auch bei der Wiener Polizei. "Vor vielen Schulen herrscht in der Früh ein Verkehrschaos, das zum Problem werden kann, wenn etwa in zweiter Spur gehalten wird", sagt Johann Golob, der die Pressestelle der Polizeidirektion Wien leitet.

Begegnungszone Frühstück

Deshalb halte die Polizei mit den Schuldirektionen an neuralgischen Stellen engen Kontakt, informiert bei Elternabenden über richtiges Halten, sichert Gefahrenzonen und verstärkt die Schutzwege in heiklen Zonen. "Wir machen Stichproben, schreiten gegebenenfalls ein und ermahnen die Eltern, damit sie sich in der Früh mehr Zeit nehmen", sagt Golob. Trotzdem: Schulwegunfälle in Wien sind in den letzten Jahren konstant niedrig geblieben, seit 2005 gab es kein einziges getötetes Kind. Der Fall am Montag war der erste seit vielen Jahren.

Rudolf Egger setzt weniger auf sicheres Halten vor der Schule – er will die Kinder mit spätestens sieben, acht Jahren lieber allein losschicken – zu Fuß, mit dem Rad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine Horrorvorstellung für viele Mütter und Väter. "Eine Mutter hat mir einmal gesagt: Wenn das Kind durch die Haustür geht und ich weiß nicht, was passiert, dann ist das nicht gut." Das ist der Kern der Sache.

Den Schulweg für die Kinder freizugeben – mit allen Unsicherheiten, Unwägbarkeiten, vermeintlichen und echten Risiken – das falle vielen Eltern schwer. "Sie wollen Planungssicherheit und die Kontrolle nicht abgeben." Viele würden auch die Synchronisationsprozesse innerhalb der Familie nicht mehr schaffen.

Es gelingt ihnen nicht mehr, die unterschiedlichen Bedürfnisse, Lebensrealitäten und Tempi der einzelnen Familienmitglieder aufeinander abzustimmen. Das liegt auch daran, dass gemeinsame Räume in vielen Familien wegbrechen – etwa gemeinsame Mahlzeiten, bei denen man sich austauscht.

Die Begegnungszone Frühstück verschwindet immer mehr, man trinkt heute einen schnellen Schluck Kaffee oder Kakao im Stehen, putzt die Zähne, und ab die Post. "Ein Drittel der Neunjährigen frühstückt überhaupt nicht mehr", weiß Egger. Die bekommen Geld für die Jause.

Kalkulierbar, schnell und sicher

Wie exakt durchgeplant das Leben in vielen Familien heute ist, merkt man natürlich vor allem am Morgen – der Zeit verschärfter Verdichtung. "Mit Kindern aufzustehen, zu frühstücken, sie für die Schule fertig zu machen – das ist für viele Eltern kaum zu bewältigen und der totale Stress", sagt Egger.

"Wenn sich das Kind auf dem Schulweg wehtut, bedeutet das, dass du vielleicht eine Stunde später in die Arbeit kommst – das muss aus Elternsicht um jeden Preis vermieden werden." Also lieber das Kind ins Auto packen und punktgenau vor der Schule absetzen, kalkulierbar, schnell und sicher – bevor man weiterrast.

Der Takt, den die Eltern vorgeben, hat aber nachweislich Einfluss darauf, wie Kinder die Welt sehen: So werden die eigenständig zurückgelegten Wege von Kindern im Alltag seit Jahren immer kürzer. Zahlreiche Studien der letzten Jahre zeigen, dass Kinder sich Raum und Umwelt immer weniger körperlich aneignen, im Sinne eines autonomen physischen Entdeckens, und dass ihre Welterfahrung immer mehr durch ortsfixierte, sitzende Tätigkeiten geprägt ist.

Anstatt mit Freunden ohne elterliche Aufsicht durchs Unterholz zu jagen, sitzen Kinder in ihrer Freizeit heute meist vor dem Computer oder beim Fernseher. Das hat nicht nur gesundheitliche Auswirkungen, weil sich die Kinder immer weniger bewegen. Sie erfahren die Welt um sie herum auch als weniger beeinflussbar, als weniger individuell "formbar", weil sie sich ausschließlich in jenen sicheren Bahnen bewegen, die die Eltern ihnen in bester Absicht vorgeben.

Egger sagt auch, dass der frühe Schulbeginn in Österreich zur Verdichtung am Morgen beiträgt. Aber nicht nur der: Das Problem sei die allgemeine Taktung der Arbeitswelt – und dass viele Eltern sich so schwertun, ihre Kinder loszulassen. Dabei wäre das Loslassen zum richtigen Zeitpunkt die Voraussetzung dafür, dass Kinder lernen und wachsen – motorisch, emotional, sozial.

Funktionieren muss es

Es ist also nicht nur der Stress in der Früh. Und es ist nicht nur die Sorge ums Kind. Egger sagt, dass viele Eltern ihre Kinder deshalb nicht loslassen wollen, weil sie ein eigenes Bedürfnis hinter ihr Handeln gelegt haben. Und dieses Bedürfnis heißt: Es muss funktionieren. Alles muss funktionieren: der Alltag, die Work-Life-Balance, das neue Smartphone, die Kinder.

Wenn der Alltag der Eltern aber bis ins Detail durchgeplant und durchgetaktet ist, dann bringt jede Verzögerung das System ins Wanken und muss vermieden werden. Umwege gehen, Ungeplantes entdecken, aufgeschlagene Knie auf dem Schulweg: Das ist dann nicht mehr drin. Das Dumme nur: Genau daran wachsen Kinder. (Lisa Mayr, 29.5.2016)