Sein Gesicht ist eine Geschichte: Harry Dean Stanton in der Hauptrolle seines Lebens, als Travis Henderson in Wim Wenders' 1984 erschienenem Roadmovie "Paris, Texas".

Filmstill

Neunzig ist er diese Woche geworden. Da sind andere längst tot, in Vergessenheit geraten oder warten nur noch als schon vorbereiteter Nachruf in irgendwelchen Redaktionen auf ihren finalen Auftritt. Nicht Harry Dean Stanton. Der hat gerade bekanntgegeben, erneut mit David Lynch zusammenzuarbeiten. "Lucky" heißt der Film.

Es ist das Regiedebüt des Schauspielers John Carroll Lynch. Stanton spielt darin einen Atheisten, der auf einer "spirituellen Reise" allerhand Freaks und Narren trifft. Einen davon spielt David Lynch. Schon sind Fotos aufgetaucht, auf denen die beiden Freunde in Regiesesseln nebeneinandersitzen und breit grinsen.

Es gibt keine Antworten

90-Jährigen werden gerne Fragen über die Geheimnisse eines langen Lebens gestellt. Harry Dean Stantons Antworten würden enttäuschen. Es gibt keine Geheimnisse, würde er sagen und wahrscheinlich die Schriftstellerin Gertrude Stein zitieren: "Es gibt keine Antwort. Es wird keine Antwort geben. Es hat nie eine Antwort gegeben. Das ist die Antwort."

Diese Haltung passt zu Stantons im Alter immer stärker ausgeprägter Form eines gottlosen Buddhismus, eines pragmatischen Nihilismus, der ihm jede existenzielle Last zu nehmen scheint. Er raucht, zecht und arbeitet ungebremst.

Sei einfach du selbst

Harry Dean Stanton ist Schauspieler, und zwar seit ewig. In über 250 Filmen hat er mitgespielt, seit den späten 1950ern ist er im Business. Begonnen hat er mit Fernsehfilmen, bald tauchte er auf der großen Leinwand auf. Er erzählt oft die Geschichte, in der ihn Jack Nicholson anrief und sagte, er habe da eine Rolle für ihn: "Der Typ heißt Blind Dick Reilly, trägt eine Augenklappe und eine Melone. Du musst nichts tun, sei einfach du selbst." Das habe er getan und nie wieder damit aufgehört.

Harry Dean Stanton ist einer der besten Nebenrollendarsteller Hollywoods. Ein hagerer Typ mit eindringlichem Blick, manchmal traurig, wenn es sein muss, verschlagen. Große irische Nase, große Ohrwascheln. Ein Typ, den die Kritik als Charakterdarsteller beschreibt. Er nennt diese Zuschreibung Bullshit: "Jeder Schauspieler hat Charakter."

Geheime Liebe

Als Nebendarsteller hat er es sich in Hollywood früh gut eingerichtet. Er war als Schauspieler eher ein Trabant, als Lebemann aber mittendrin. Zwei Jahre lang wohnte er mit Jack Nicholson zusammen, kurz bevor der mit "Easy Rider" weltberühmt wurde. Langweilig sei es nie gewesen. Zu der Zeit tauchte Stanton in dem Südstaatendrama "In the Heat of the Night" auf und in dem Gefängnisfilm "Cool Hand Luke". Als Mitgefangener von Hauptdarsteller Paul Newman singt er das Gospel "Just a Closer Walk with Thee". Ein verräterischer Moment. Er offenbart die geheime Liebe Stantons, die Musik. Doch die blieb zunächst ein privates Vergnügen.

Im Hintergrund singt Harry Dean Stanton "Just a Closer Walk with Thee" – gegen Ende sieht man ihn in Nahaufnahme.
The Elvish Magic

Zur Zeit des New-Hollywood-Kinos fand sich sein Name auf etlichen Abspännen wieder, viele der Filme, in denen er mitwirkte, tragen heute das Präfix Kult. Er spielte einen schwulen Cowboy in "Two-Lane Blacktop", einen verdrogten Countrymusiker an der Seite von Kris Kristofferson in "Cisco Pike". Er ruinierte Sam Peckinpah eine wichtige Szene für "Pat Garrett & Billy the Kid", weil er mit Bob Dylan durch den Sonnenuntergang joggte, er war FBI-Mann in "The Godfather II" oder gab in John Hustons "Wise Blood" einen falschen Blinden. Ach ja, in "Alien" spielte er ebenfalls mit, und das waren nur Auszüge aus den 1970ern. In den frühen 1980ern trat er in John Carpenters "Die Klapperschlange" und "Christine" auf, doch sein Jahr sollte 1984 werden.

Erste Hauptrolle

Wim Wenders suchte damals eine Besetzung für ein Script von Sam Shepard. Es trug den Titel "Paris, Texas". Shepard wollte die Rolle nicht selber spielen, Wenders fragte Stanton an. Der hatte gerade die Nase voll von lauten A- und B-Movies und wollte etwas Einfühlsames und Intelligentes spielen.

"Paris, Texas" sollte Stantons erste Hauptrolle werden, er zögerte. Doch als Wenders ihm erzählte, dass die Hauptfigur in der ersten halben Stunde des Films kein Wort sagen würde, war er dabei. Das war seine Rolle, das war er. Sam Shepard sagt über ihn: "Sein Gesicht ist eine Geschichte."

"Paris, Texas" beweist das eindrücklich. Stanton spielt Travis Henderson, der durch die Wüste von Texas stiefelt, in einem Kaff auftaucht und kollabiert. Der Arzt forscht seinen Bruder aus, der holt ihn zu sich nach Hause. Langsam taut Travis auf, stellt sich seiner Vergangenheit, seinem Sohn und sucht dessen von Nastassja Kinski verkörperte Mutter. Stanton spielt mit großer Einfühlsamkeit einen Misfit, einen stoischen Underdog, der Mutter und Kind zusammenführt und wieder verschwindet, um deren Glück nicht zu gefährden.

"Ordinary fucking people"

Der Film gewann die Goldene Palme in Cannes und wurde Kult, so wie der Soundtrack von Ry Cooder. Darauf singt Stanton "Canción Mixteca", einen mexikanischen Schmachtfetzen über das Heimweh. Eine Offenbarung.

Stanton erklärt und singt das aus "Paris, Texas" bekannte Lied "Canción Mixteca".
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Im selben Jahr drehte Stanton mit Alex Cox den Film "Repo Man". Mit dem Vorstadtpunk Otto, gespielt von Emilio Estevez, streift er Koks ziehend durch die Nacht von L. A. und klaut Autos von Leuten, die ihre Raten nicht begleichen. "Ordinary fucking people, I hate 'em", legt ihm das Drehbuch in den Mund. Wieder war er ganz er selbst, verwies auf seine Herkunft, seine Familie, über die er nur selten spricht.

Stanton mit Emilio Estevez in "Repo Man" – er ist kein Freund gewöhnlicher Leute, nope.
Movieclips

2012 drehte die Schweizer Regisseurin Sophie Huber die Doku "Partly Fiction" über ihn. Woran er sich aus seiner Kindheit erinnere, fragt sie ihn. "Albträume", lautet seine Antwort. Am 14. Juli 1926 wurde er in einem Kuhdorf in Kentucky geboren. Als Koch war er im Zweiten Weltkrieg bei der Navy auf einem Landeschiff während der Schlacht um Okinawa im Einsatz. Die Traurigkeit in seinen Augen mag sich darin begründen.

Während seine Geschwister nach dem Krieg ein gottesfürchtiges Landleben führten, haute er ab, studierte Journalismus und Schauspiel und landete in Hollywood. Musik war seine zweite Option gewesen, doch er dachte, als Schauspieler könnte er beidem nachgehen. Das sollte sich bewahrheiten.

"Repo Man" wurde mit seinem die Punkszene von Los Angeles abbildenden Soundtrack ebenfalls populär. Ein paar Jahre später, er hatte in der Zwischenzeit im Video von Ry Cooders "Get Rhythm" mitgespielt, trat Stanton mit Haberern als Harry Dean Stanton and the Repo Men in kleinen Clubs in L. A. auf und spielt bluesigen Rock und mexikanische Balladen.

Harry Dean 1987 als MC in Ry Cooders Video zu "Get Rhythm", einem alten Johnny-Cash-Song.
biamaku

Ein einziges Mal schaffte es die Band raus aus der Nachbarschaft. 1999 kuratierte Nick Cave in London das Meltdown Festival. Dafür holte er den legendären Songwriter und Musiker Lee Hazlewood nach 25 Jahren erstmals wieder auf die Bühne. Im Vorprogramm trat Stanton mit seiner Band auf. Im weißen Leinenanzug und gepflegt im Öl, spielte er gut abgehangenen Rootsrock, spielte sich selbst.

Brandos Busenfreund

Geheiratet hat er nie, eine Freundin hat ihm Tom Cruise ausgespannt. Zweimal sind vermeintliche Kinder von ihm aufgetaucht, bei einem war er sich ziemlich sicher, dass er der Vater ist. Er sei ein Womanizer gewesen, aber ein Loner. Schließlich musste ja einer da sein und abheben, wenn Marlon Brando nächtens anrief, ein Busenfreund, und mit wem über Shakespeare oder Gedichte von Indigenen reden wollte.

Außerdem er hat immer gearbeitet. Deshalb wirkt seine im Alter proklamierte "Philosophy of Nothing" – nichts ist von Bedeutung – so kokett. Seine Filmografie riss nie ab, dabei hat er einiges abgelehnt. Etwa die Hauptrolle in David Lynchs "Blue Velvet", die statt ihm sein Freund Dennis Hopper übernommen hatte, Stanton war sie zu intim.

Entfremdung, Liebe, Schmerz

Mit David Lynch hat er sechs Filme gedreht, darunter "Wild at Heart", "Twin Peaks: Fire Walk with Me" und "The Straight Story". Letzterer erzählt die Geschichte eines alten Mannes, der seinen Bruder besucht, nachdem er erfahren hat, dass der einen Herzinfarkt hatte. Weil er keinen Führerschein besitzt, fährt er mit einem Rasenmäher hunderte Meilen durchs Land.

Stanton tritt erst ganz am Schluss auf. Viele Jahre lang haben sich die beiden nicht gesehen. Als sie wortkarg auf der Veranda sitzen und Stantons Blick auf den Minitraktor fällt, mit dem sein Bruder angereist ist, widerspiegelt seine Mimik eine Erschütterung, die das Kino nicht oft zeigt. Entfremdung, Schmerz und Liebe – bessere Darstellungskunst ist kaum vorstellbar.

Wandelnder Widerspruch

Dieser Sensibilität steht der Radaubruder gegenüber, von dem Youtube-Videos kursieren, in denen er besoffen aus Clubs geworfen oder gar nicht erst reingelassen wird. Harry Dean Stanton, ein wandelnder Widerspruch, ein Mann wie ein Countrysong. Solche Lieder singt er auf seinem 2014 erschienenen Debütalbum, dem Soundtrack zu Sophie Hubers Film, ein solcher Widerspruch verlieh der Doku den Titel. Er stammt aus Kris Kristoffersons Song "The Pilgrim, Chapter 33". Da singt er: "He's a walking contradiction, partly true and partly fiction."

Im Film sitzt Kristofferson neben Stanton und erzählt, dass Johnny Cash und Dennis Hopper dachten, in dem Lied gehe es um sie, dabei war es von ihm inspiriert, von Harry Dean. In dem Moment schließt sich ein Kreis, Stanton lächelt. Man merkt, das bedeutet ihm etwas, freut und ehrt ihn. Seine Philosophie des Nichts wird von Kristoffersons Zuneigung aufgehoben. In diesem Sinne: Happy Birthday, Harry Dean. (Karl Fluch, 15.7.2016)