Brille auf, und man betritt das Museum. Man kann sich umsehen, in einen Trakt einbiegen, mit einem Klick Informationen über ein Gemälde einholen. Wer will, kann auch in das Bild springen – und die Figuren aus nächster Nähe betrachten. Und zwar während er daheim auf dem Sofa sitzt. Auch die Unterwasserwelt lässt sich von dort aus bereisen, das Weltall – und sogar die Vergangenheit, beispielsweise die Römerstadt Carnuntum.

Virtuelle Museumstrips mit Woofbert.
CNN

Möglich macht das "Augmented Reality" (AR). Die Technologie erweitert die wirkliche Welt um virtuelle Aspekte, im Gegensatz zur "Virtual Reality" (VR), in der die reale Welt komplett ausgeschlossen wird. Derzeit taucht der Begriff regelmäßig in der Berichterstattung über das Game Pokémon Go auf. Darin tritt man am Smartphone gegen Monster in seiner Umgebung an.

Informationen erlebbar

Erste Ansätze der "erweiterten Realität" entstanden in den 1960er Jahren, seitdem beschäftigt sie Forscher. Das wohl bekannteste AR-Produkt ist die Google-Glass-Brille, die 2012 präsentiert wurde – seitdem hat sich die Technologie weiterentwickelt und AR lässt sich auch auf anderen Geräten wie Laptop, Tablet oder Smartphone erzeugen.

Experten sehen in der Technologie Chancen für die Bildung: Sie mache Informationen erlebbar, sagt etwa Suzana Jovicic, Junior Consultant bei Heitger Consulting: "Alle Sinne werden angesprochen." Durch die Realitätsnähe würde es auch erleichtert, Zusammenhänge zu verstehen und sie sich zu merken, so die Spezialistin für Gamification, Digitalisierung und Innovation. "Außerdem sind die Lernenden motivierter", sagt Jovicic zum STANDARD. "Jeder von uns kennt das Gefühl, wenn uns ein Film besonders bannt oder wir ein Buch gar nicht mehr weglegen können. AR-Anwendungen machen uns das besonders leicht", sagt Peter Baumgartner, Leiter des Departments für Interaktive Medien und Bildungstechnologien an der Donau-Universität Krems.

Innovationen in den USA

Nicht zuletzt können AR und VR den Lernenden Orte zugänglich machen, an die sie sonst vielleicht nicht gelangen würden. Ein Beispiel dafür ist das "Expeditions Pioneer Program". Damit tourt Google derzeit durch Schulklassen. Mit einer Halterung aus Karton können Schüler ihr Smartphone in eine Datenbrille verwandeln – und damit virtuelle Ausflüge, etwa in den Buckingham Palace oder nach Machu Picchu, unternehmen. Möglich machen das 360-Grad-Fotos.

Google Expeditions: Mit einer Halterung aus Karton lässt sich aus dem Smartphone eine Datenbrille basteln.
Google for Education

Innovationen kommen bisher, wie so oft, meist aus den USA. Auch den Prototyp für den virtuellen Arbeitsplatz gibt es dort bereits: das Start-up 8ninths entwickelte für den US-Finanzdienstleister Citigroup einen holografischen Schreibtisch. Daran sind zwei gegenüberliegende Bildschirme angebracht, die dem Trader Informationen projizieren: beispielsweise Handelsvolumina in Gestalt bunter Bälle. Interagieren kann er klassisch mit Maus und Tastatur oder durch Gesten und Spracheingabe.

Einsatz im deutschsprachigen Raum

Im deutschsprachigen Raum wird Augmented Reality bisher vor allem in der Luftfahrt, Medizin und Industrie zum Arbeiten und Lernen eingesetzt. So entwickelte das Fraunhofer-Institut ein System, das Monteuren die Reparaturanleitung einer Maschine einblendet. Auch in der Industrie-4.0.-Lernfabrik des Technologiespezialisten Festo im deutschen Scharnhausen trainieren Mitarbeiter mit AR. Linzer Computerwissenschafter arbeiten an Augmented-Reality-Brillen für Piloten. Diese sollen ihnen Daten aus dem Bordcomputer und hilfreiche 3-D-Grafiken direkt vor die Augen projizieren.

Chirurgen könnten künftig von derlei 3-D-Visualisierungen eines Tumors beim Operieren unterstützt werden: An der Technischen Uni Graz wird bereits an der Einbindung von Datenbrillen in den chirurgischen Alltag gearbeitet. In einigen deutschen Universitätskliniken trainieren (angehende) Ärzte bereits an virtuellen Patienten. Auch Museen versuchen, erweiterte Realität nutzbar zu machen. "AR-Einsätze im Tagesgeschäft von Bildung sind mir – noch – nicht bekannt", sagt E-Learning-Experte Baumgartner. Zu groß seien oft die Vorbehalte, zu teuer die Anschaffung. Auch Datenschutzbedenken werden geäußert.

VR kann die Anatomie des Körpers näherbringen. Dazu entwickelte das Start-up Curiscope eine Technologie, mit der man eine virtuelle Reise in den Körper unternehmen kann: Auf dem Shirt ist ein Code gedruckt – sobald man das Smartphone oder Tablet darauf richtet, hat man freie Sicht auf Herz, Lunge und Co.
Foto: Curiscope

Zukunft der Bildung?

Beraterin Jovicic glaubt jedoch, dass erweiterte Realität an Bedeutung gewinnen wird: "Gerade die Generationen, die in einer interaktiven, multimedialen Welt aufgewachsen sind, haben andere Anforderungen an Lernen. Verspieltes Training mit diversen Medien, Echtzeitinformation und -Feedback wird die Zukunft prägen – sowohl im Klassenzimmer als auch in der Fabrik."

Könnte die Zukunft der Bildung so aussehen? Lecture VR simuliert einen Seminarraum. Ein Szenario: Eine Unterrichtseinheit zu Apollo 11. Während der Lehrende unterrichtet, verwandelt sich der Raum in einen Space Shuttle.
Immersive VREducation

Wichtig sei aber, zu überlegen, wo der Einsatz sinnvoll ist, so die Experten. "Auch wenn die Hightech-Welt einen Wow-Effekt hat, werden wir uns an unsere Schulzeit durch emotionale Geschichten, Freundschaften und Lieblingslehrer erinnern", gibt die studierte Anthropologin Jovicic zu bedenken. Es gebe zudem noch kaum Forschung dazu, wie sich die erweiterte Realität auf die Gehirnentwicklung auswirkt. Ein Experiment der Stanford University zeigte, dass Kinder eine virtuelle Erfahrung im Nachhinein oft nicht mehr von einer echten unterscheiden konnten. (Lisa Breit, 27.7.2016)