Therapien als digitale Rechenleistung könnte in Zukunft eine echte, individualisierte Medizin möglich machen.

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Die Informationstechnologie sprengt Branchengrenzen – derzeit erobert sie die pharmazeutische Industrie.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

So einen Weitblick hat wahrscheinlich nicht einmal Joseph Schumpeter (1883–1950) gehabt. Der österreichische Ökonom hat 1912 in seiner "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" zwar vieles richtig vorhergesehen, was die (kapitalistische) Welt antreibt. Dass der Prozess der "schöpferischen Zerstörung" aber dereinst ganze Branchen umpflügen würde, hat sich Schumpeter so wohl nicht träumen lassen. Dank Digitalisierung beginnen immer mehr Mauern zu bröckeln, jetzt auch im Gesundheitsbereich.

Unternehmen, die bisher nichts mit Medizin am Hut hatten, sind plötzlich wichtige Player auf dem viele Milliarden schweren Markt der Früherkennung von Krankheiten und der Prävention. Apple, früher fast ausschließlich wegen seiner stylischen Computer bekannt, später Auslöser einer technischen Revolution mit dem iPhone, ist fast nebenbei zum größten Gesundheitsunternehmen der Welt avanciert.

Die Ansprüche der Forschung und mancher Unternehmen gehen weit, sie reichen bis zur Reparatur von Genen. Mit dem sogenannten CRISPR/Cas9-System können Forscher mittlerweile punktgenaue Eingriffe in das Genom machen.

In Daten Strukturen entdecken

Wo früher Pharmafirmen wie Bayer, Pfizer, Merck und Co den Ton angaben und sich Medizintechnik-Größen wie Siemens oder General Electric einsamen Wölfen gleich Märkte teilten, stocken nun Unternehmen wie Google, Microsoft oder IBM, allesamt ohne medizinische DNA, ihre Medizin-Engagements massiv auf.

Dank immer ausgeklügelterer Technologien gibt es kaum noch Momente, in denen von Menschen produzierte Daten nicht aufgezeichnet würden. Aufgrund der schieren Menge bleiben dahinter verborgene Muster aber häufig unentdeckt. Immer mehr Unternehmen erkennen, dass im Auffinden von Strukturen im weiten Meer der Daten der Schlüssel zu einem Schatz liegt.

"Daten – richtig ausgewertet – haben dieselbe Wirkung wie richtig verordnete Medikamente", ist Markus Müschenich überzeugt. Der Berliner Arzt ist Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin und gilt als Vordenker im Gesundheitsbereich. Er findet Medizin-Apps "super, sofern sie halten, was sie versprechen". Im Sinne des Verbraucherschutzes müsse die Politik ein wachsames Auge darauf haben. Warum er Software-Applikationen als große Chance sieht, erläutert Müschenich am Beispiel von mySugr.

App als Therapiebegleiter

Weltweit gibt es fast 400 Millionen Personen, die zuckerkrank sind – Tendenz steigend. Seit 2012 sammelt das Wiener Start-up Daten von Diabetikern. Dafür hat mySugr eine eigene App entwickelt. Das Tückische ist, dass Diabetiker erst nach zehn oder 20 Jahren Fehler im Umgang mit der Krankheit merken. "Dann sind sie meist unwiederbringlich krank, die Nieren- und Blutgefäße bereits kaputt", sagt Müschenich. Diabetiker müssten deshalb sehr genau ihren Körper beobachten, Blutzucker messen, Insulin richtig dosieren und abwägen, was sie zwischendurch essen. "Alles sehr aufwendig", sagt Müschenich.

Das mittlerweile auf knapp 40 Mitarbeiter angewachsene Start-up um die Gründer Fredrik Debong, Frank Westermann, Gerald Stangl und Michael Forisch verspricht den einfacheren Umgang mit der Krankheit mittels Smartphone. Die Tagebuch-App etwa hilft beim Diabetesmanagement. Die mySugr-Scanner-App, die mit dem auf optische Texterkennung spezialisierten Start-up Anyline entwickelt wurde, scannt und importiert die Daten von Blutzuckermessgeräten.

Statt auf Papier erfolgt die Dokumentation elektronisch. "Früher musste ein Diabetes-Patient genau Buch führen. Es gab viele Seiten mit Einträgen, aber keinerlei Auswertung. Jeder Wert musste einzeln geprüft werden", sagt Müschenich. "Mit der App sieht der Patient auf einen Blick, ob der Blutzucker gut eingestellt ist und ob das auch in den Wochen davor der Fall war." Das Wiener Start-up hat inzwischen gut 800.000 Nutzer, viele davon in den USA und im deutschsprachigen Raum. MySugr ist die bis dato erfolgreichste Diabetes-App – weltweit.

Neue Anbieterin der Medizin

Ärzte würden dadurch nicht überflüssig, auch Medikamente seien weiter notwendig. "Man muss überlegen, wo die digitale Medizin sinnvoll ist", meint Müschenich. Er findet: "Überall dort, wo der Patient im Alltag allein mit der Krankheit umgehen muss." Bisher sei in solchen Fällen meist "Dr. Google" konsultiert worden. Müschenich: "Dabei kommt aber selten etwas Befriedigendes heraus."

Nicht Dr. Google sei somit das Modell der Zukunft, sondern Unternehmen, die sich spezifisch um ein Krankheitsbild kümmerten, ist der Berliner Arzt überzeugt. Die Zahl einschlägiger Medizin-Apps geht bereits in die Tausende, fast täglich kommen neue hinzu.

Auch auf anderen Gebieten verschwindet Altes und entsteht Neues. Apple zum Beispiel ist Teil eines von IBM angestoßenen Bündnisses mit dem Ziel, medizinische Daten nutzbar zu machen. In der Watson Health Cloud werden Medizindaten von Patienten archiviert und allen Berechtigten zugänglich gemacht.

IBM selbst ist ein gutes Beispiel für Transformation. Einst Synonym für Großrechner, ist der Konzern aus Armonk inzwischen weltgrößter IT-Dienstleister und rührt nun zunehmend auch im Gesundheitsbereich um. Mit einem milliardenschweren Zukauf hat Big Blue erst im Februar vergangenen Jahres sein Geschäft mit Gesundheitsdaten ausgebaut und für 2,6 Milliarden Dollar (2,33 Milliarden Euro) Truven Health Analytics übernommen.

Es ist der vierte Zukauf des Technologiekonzerns in der Branche seit Gründung der Gesundheitssparte im April vergangenen Jahres. Truven bietet Internet-basierte Gesundheitsdienstleistungen an.

Prävention von Erkrankungen

Neben Apple und IBM arbeiten auch Johnson & Johnson (J&J) sowie Medtronic, einer der größten Hersteller von Medizingeräten, am Projekt Watson Health Cloud mit. Als Partner von Apple auf dem Unternehmensmarkt entwickelt IBM auch Wellness-Apps für Firmen, um die Fitness von Angestellten hochzuhalten. Apple hat mit der gleichnamigen Watch ebenfalls ein auf körperliche Fitness ausgerichtetes Produkt im Portfolio.

In diesem Markt ist Apple freilich nicht allein: Microsoft beispielsweise hat ein Fitnessband im Angebot, während Samsung zunehmend Herzfrequenzmessung und Fitness-Apps in sein Produktsortiment integriert. Auch eine Cloud-Plattform für Fitnessdaten entwickelt das koreanische Unternehmen.

Dazu kommt eine Vielzahl alter und neuer Fitness-Spezialisten, zu denen etwa auch das Linzer Start-up Runtastic gehört, das mittlerweile von Adidas aufgekauft wurde. Sogar Schweizer Uhrenhersteller wie Alpine, Frederique Constant und Mondäne haben begonnen, Fitness-Sensoren in Quartzuhren zu integrieren.

Mit Wearables (tragbare Computersysteme) und Nearables (mobile Messgeräte) hält zunehmend Sensorik Einzug in den Gesundheitsalltag. Viele Menschen vermessen, analysieren und optimieren ihre Gesundheits- und Vitalwerte inzwischen rund um die Uhr. Die gewonnenen Daten lassen sich günstig und einfach wie nie erfassen, aggregieren und analysieren.

Hinzu kommen neue Möglichkeiten durch digitale Technologien (Big Data) und Analytics (Datenverkehrsanalyse). All diese Faktoren sorgen dafür, dass am Gesundheitsmarkt innovative Geschäftsmodelle förmlich wie Pilze aus dem Boden schießen.

Immer vernetzter werden

Zwar haben auch traditionelle Pharmafirmen Fenster in die digitale Welt aufgestoßen – fast alle Anbieter haben zumindest an der Digitalisierung ihrer internen Strukturen gearbeitet und eigene App-Lösungen entwickelt. Doch gerade Letztere konnten bei einem geringen Nutzungsgrad noch nicht so richtig abheben. Immer mehr Life-Sciences-Unternehmen schwant aber, dass sie dringend an der Neudefinition ihrer Rolle im Gesundheitsökosystem arbeiten müssen.

Der Weg, den sie einschlagen sollen, um nicht weggefegt zu werden, scheint vorgezeichnet: von reinen Pharmaherstellern zu echten Gesundheitsdienstleistern, mit deren Hilfe Menschen ihr Wohlbefinden langfristig wahren beziehungsweise verbessern oder ihre Gesundheit wiedererlangen können. Dafür bedarf es freilich weit mehr als Pillen und Salben zu produzieren, denn Behandlungserfolge für Patienten werden erst durch eine ganze Reihe kombinierter und miteinander verzahnter Services möglich.

Dabei liegt der Schlüssel nicht zwingend in der Eigenentwicklung von Dienstleistungen. Auch gezielte Investitionen in Kooperationen mit Technologieanbietern können zielführend sein. So hat etwa Biogen, eines der ältesten unabhängigen Biotechnologieunternehmen der Welt, Ende 2014 angekündigt, den Fitnesstracker Titbit zur Messung von Aktivität und Schlaf bei Patienten mit multipler Sklerose zu testen.

Riesiger Markt

Zuvor hat bereits der Pharmakonzern Novartis auf die strategische Zusammenarbeit mit Google bei der Entwicklung von Linsen gegen Altersweitsichtigkeit ("Smart Lens") gesetzt. Sie sollen nicht nur den Blutzucker messen, sondern zugleich Sehstörungen korrigieren. 2015 schließlich hat der Pharmariese Roche angekündigt, gut eine Milliarde Euro in die an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq notierte "Foundation Medicine" zu investieren, um an genetisch optimierten und jeweils auf den Patienten zugeschnittenen Methoden zur Krebstherapie zu arbeiten.

Es gibt kleine, sehr erfolgreiche Biotechfirmen, bei denen große Pharmakonzerne neuartige Moleküle einkaufen. Diese können unter Umständen mehrere Milliarden Euro kosten. Die Forschung der Pharmakonzerne konzentriert sich in der Folge darauf, die Mittel durch klinische Studien marktgängig zu machen. Das investierte Geld wollen sie über den Preis wieder hereinholen. Das ist mit ein Grund, warum es für die Krankenversicherung teurer und teurer wird.

Die neuen technologischen Möglichkeiten in der Gesundheitsversorgung verändern nicht nur das Leben von Menschen, sondern auch das Arbeiten von Ärzten, Kliniken und Unternehmen. "Jedes Produkt wird irgendwie vernetzt sein. Die Digitalisierung eröffnet uns unendlich viele Möglichkeiten", zeichnete Philips-Chef Frans van Houten kürzlich im "Handelsblatt" sein Bild von der Zukunft der Gesundheitsversorgung. Das Potenzial ist riesig: Nach Prognosen der Unternehmensberatung Arthur D. Little wird sich der digitale Gesundheitsmarkt bis 2020 weltweit auf rund 233 Milliarden Dollar (gut 210 Milliarden Euro) mehr als verdoppeln.

Messen mit Sensoren

Schon heute tüfteln Industrieunternehmen wie Bosch Sensortec oder der US-Elektronikkonzern Jabil daran, in Zukunft T-Shirts und Hosen mit Sensoren zu bestücken, die etwa den Herzschlag oder andere Vitaldaten analysieren. Krankheiten viel früher erkennen und deutlich besser behandeln können – das sind die großen Hoffnungen, die mit der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung einhergehen. Nicht zuletzt wegen der guten Marktaussichten hat der einstige Mischkonzern Philips beschlossen, sich auf das Thema Gesundheit zu konzentrieren.

Auch wenn sich immer mehr Start-ups im großen Teich der Biomedizin tummeln – manche klatschen nach steilem Aufstieg ziemlich laut auf. Das ist Theranos passiert. Das einst mit Milliarden bewertete Bluttest-Start-up hat heuer im Juli auch noch die Laborlizenz in Kalifornien verloren, nachdem die Aufsichtsbehörde Unregelmäßigkeiten entdeckt hatte.

Theranos-Gründerin Elisabeth Holmes hatte versprochen, Bluttests durch deutlich kleinere Proben zu revolutionieren. Ein winziger Tropfen nach einem schmerzlosen Nadelstich würde genügen, komplette Blutbilder zur Diagnose hunderter Krankheiten anzufertigen. Bis dann im Frühjahr Berichte über massive Probleme aufgetaucht sind.

Kassen zahlen digitale Therapie

Davon abgesehen gibt es auch Erfreuliches. So werden in Deutschland von einzelnen Kassen mittlerweile auch die Kosten für ärztlich verordnete, digitale Therapien übernommen. Die Firma Caterna etwa, eine Ausgründung der Universität Dresden, hat eine App entwickelt, mit der unter Amblyopie leidende Kinder zu Hause vor dem Bildschirm ein Sehtraining machen können. Amblyopie ist eine Form der Sehschwäche, die traditionell mithilfe von Augenpflastern behandelt wird.

"In den USA ist man Kopf gestanden, als man gehört hat, dass Deutschland, das ja nicht gerade berühmt ist für seine Innovationen, mit der Barmer Krankenkasse als allererstes Land so eine Therapie in die Kostenerstattung bringt", erinnert sich der Berliner Arzt Müschenich. Dabei ist es nicht geblieben. Im Vorjahr hat die Techniker Krankenkasse die Kosten für Tinnitracks übernommen, einer akustischen App zur Behandlung lästiger Ohrengeräusche.

Auf den Zug aufspringen

Die schöne neue Welt der Biomedizin sei ungemein bunt geworden. "Es sind Betroffene, die beispielsweise die Diabetes- und Tinnitus-App mitentwickelt haben. Es gibt Wissenschafter, die eine Idee haben und diese mit einem eigenen Start-up umsetzen wollen. Zunehmend drängen auch Internetgiganten wie Apple und Google in den Markt. Die sind sehr aktiv in dem Bereich, machen viele Sachen richtig gut, aber natürlich ist das Geschäftsmodell bei Letzteren nicht eines, das von der Ethik getrieben wird, wie man das bisher im Gesundheitswesen gewohnt war", sagt Müschenich, der Arzt aus Berlin.

Und fügt hinzu: "Wenn wir uns als Ärzte wegducken, dürfen wir uns auch nicht beschweren, dass andere, die nicht diesen ärztlichen, ethischen Hintergrund haben, Geschäfte machen wollen." (Günther Strobl, 30.1.2017)