Martin Prinz, 1973 in Wien geboren, ist ein österreichischer Schriftsteller. Soeben ist von ihm ein neuer Roman erschienen: "Die letzte Prinzessin", Insel-Verlag, 340 Seiten, 24,70 Euro.

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"Aus dem Asphalt wurde Schotter, und ab dem Waldrand hatten wir Erde, Laub und Steine unter unseren Schuhsohlen." Schriftsteller Martin Prinz

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Lieber sofort Buchen im Wienerwald als weit im Voraus Flüge buchen.

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Zuerst standen England, Schottland oder Norwegen zur Diskussion. Inklusive Reiseführerlektüre und Kartenstudium. Doch im fraglichen Zeitraum Anfang August war von Mücken die Rede. Abgesehen davon wollten wir gehen, nicht fliegen, nicht umständlich anreisen, nicht langwierig planen, einfach nur gehen. Die Anschaffung eines neuen Zelts für uns beide, eines Zweieinhalb-Personen-Zelts, dessen Auswahl mir oblag und dessen Preis den Zorn meiner Frau noch über einige Kilometer, Tage und Zeltbauaugenblicke entfachen sollte, blieb am Ende die einzige logistische Aufgabe. Alle anderen verdrängten wir, bis es zu unserer Erleichterung für Flugbuchungen zu spät war und jene allererste Idee übrig blieb, die wir vielleicht auch aus Respekt vor ihrer Einfachheit nicht ganz ernst genommen hatten: Rucksack packen, die letzten Kühlschrankvorräte aufbrauchen, den Mist hinaustragen, Rucksäcke schultern und die Haustür zusperren. Dann gehen.

Nichts anderes ausgegangen

Tatsächlich wäre sich gar nichts anderes ausgegangen. Bis in den Morgen des Aufbruchs schrieb ich an der ersten Fassung meines dieser Tage erschienenen Romans "Die letzte Prinzessin". Im Wohnzimmer waren all unsere Utensilien ausgebreitet, den gesamten Vormittag benötigten wir zum Packen, und so wurde es auch ohne Abflugtermin allmählich knapp, immerhin wollten wir an dem Tag noch aus der Stadt hinaus. Von Penzing Richtung Süden, um abends irgendwo an einem Wienerwaldhang vor dem Zelt zu sitzen und in aller Ruhe auf Wien zurückzublicken. Immer eiliger befüllten wir die Rucksäcke, großspurig hatte ich meiner Frau versprochen, einen Teil ihrer Sachen zu nehmen. Dass ich in den letzten Wochen und eigentlich Monaten neben dem Schreiben kaum Zeit für Sport gehabt hatte und meine Selbsteinschätzung bestenfalls ein Wunsch war, negierte ich. Immerhin war ich ein paar Jahre davor in Längsrichtung über die Alpen gegangen. Trotzdem war der Rucksack schwer. Wir sperrten die Haustüre zu, gingen die Ameisgasse hinunter, querten den Badhaus-Steg hinüber nach Hietzing und marschierten am Café Dommayer vorbei. Mit Stock und Hut wir beide, wie im Bilderbuch.

Bis zur Stadtgrenze

Den Blicken der Leute nach zu schließen, sahen wir nicht uninteressant aus. In der Lainzer Straße überholten wir eine alte Frau. Lächelnd fragte sie uns nach unserem Weg, unserem Ziel. Lächelnd antworteten wir, klapperten mit unseren Stöcken vorbei an den Gärten und Fassaden der Hietzinger Villen, bogen in die Speisinger Straße und mussten auch ohne Fragen oder Blicke immer wieder über uns selbst schmunzeln. Knapp zehn Kilometer waren es bis zur Stadtgrenze, und bis wir in den Hügeln hinter Perchtoldsdorf einen Zeltplatz fänden, würden noch einige Kilometer samt einem ersten Anstieg hinzukommen. Aktuell spürten wir bereits die Neigung der Straße zum Rosenhügel hinauf in den Beinen. Ich tröstete mich, dass ich mir aufgrund bloßer Gehsteigkanten am ersten Tag meiner Alpenreise plötzlich nicht mehr vorstellen konnte, wie mit dem 25-Kilo-Rucksack die 10.000 Höhenmeter der nächsten vier Monate bewältigt werden sollten. Diesmal hatte er zwei Kilo mehr.

Mit frischem Schwung

Am Abhang des Rosenhügels packte uns bereits der Hunger, zuerst war weit und breit kein Lokal in Sicht. Doch ein paar Hundert Meter weiter und eineinhalb Stunden später schulterten wir unsere Rucksäcke nach zwei Tellern Spaghetti Bolognese mit frischem Schwung. Deutlich leichteren Fußes durchschritten wir Mauer, passierten die Endschleife der 60er-Straßenbahn in Rodaun und blickten bald von der letzten Anhöhe der Stadt hinunter auf das niederösterreichische Perchtoldsdorf. Wir fotografierten, als hätten wir einen Gipfel erreicht, stiegen einen erstaunlich steilen Fußweg zur Ketzergasse hinunter, wo wir die Stadtgrenze passierten. Am Gegenhang der Perchtoldsdorfer Heide lag die Stadt zum ersten Mal hinter uns. Warme Farbe in unseren Gesichtern und im verdorrten Gras. Immer weniger Spaziergänger begegneten uns, aus dem Asphalt wurde Schotter, und ab dem Waldrand hatten wir Erde, Laub, Wurzeln und Steine unter unseren Schuhsohlen.

Ein ebener Fleck

Kurz vor dem Schließen bekamen wir in der Franz-Ferdinand-Hütte noch ein Bier, prosteten einander zu und begannen im Weitergehen bereits erste Zeltplätze zu begutachten. Gänzlich zufrieden waren wir mit keinem Platz, sattelten ein ums andere Mal nach kurzer Erkundung dieser oder jener Lichtung wieder unsere Rucksäcke, während es allmählich zu dunkeln begann. So gelangten wir bis zur Anhöhe der verlassen wirkenden Kammersteiner Hütte. Ungeschickt bauten wir unser Zelt auf. Eine Notlösung angesichts der Dunkelheit. Unsere Vorstellung eines Zeltplatzes war idyllischer gewesen. Ein einigermaßen ebener Fleck für das Zelt, Tisch und Bank für die Abendjause trösteten über die Tatsache hinweg, dass wir am nächsten Morgen wohl keinesfalls allein sein würden.

Durch die Steppen von Rodaun

Etwas zittrig standen wir später auf der stählernen Aussichtsplattform hoch über der Hütte im Wind. Ringsum Wälder, dann erst all die Lichter. Wir atmeten durch. Wie sinnlos wir an diesem Tag Wasservorräte in einem Ausmaß aus der Stadt hinausgeschleppt hatten, das wir bestenfalls in hochalpinem Terrain gebraucht hätten, fiel uns erst viel später auf. Acht Liter für eine Rosenhügelüberschreitung, die wir in der Maurer Pizzeria auch samt und sonders wieder auffüllten, um durch die Steppen von Rodaun und Perchtoldsdorf zu gelangen. Man soll den Wunsch zur Idylle nicht überschätzen, ebenso wenig seine masochistische Komponente.

Natürlich gingen wir weiter, an jedem der folgenden Tage. Wir überquerten den Hochschwab und fuhren nach Kranjska Gora, wir liefen das Dreiländereck in strömendem Regen hinunter und wechselten ins Gasteiner Tal. Wir kämpften uns über Höhenwege durch enormen Gatsch und brieten Pilze auf dem Gaskocher im Hotel, wir änderten die Route laufend und hatten immer zu viel Wasser. (Martin Prinz, RONDO, 18.9.2016)