Die westliche Welt scheint vor dem Abgrund zu stehen. Mit dem Votum über den Austritt eines der wichtigsten Mitglieder aus der EU sind die ersten Steine gekullert. Die nächsten wackeln. Im November könnte das mächtigste Land der Welt einen autoritären Immobilienmagnaten als Präsidenten bekommen, einen Monat später ein Rechtspopulist in die Wiener Hofburg einziehen. Recht viel lauter könnte der Aufschrei der Wähler nicht sein. Wird er falsch interpretiert, droht die Lage weiter zu eskalieren.

Im Moment spricht viel dafür, dass die naheliegenden Erklärungen auf eine falsche Fährte führen. Die Arbeiten eines US-Psychologen legen nahe, dass die Lösung des Rätsels nicht in den äußeren Umständen der Menschen, sondern in ihrem Inneren zu finden ist. Aber der Reihe nach.

Mit guten Chancen, im Dezember Präsident zu werden: Norbert Hofer.
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Der österreichische Kanzler kann als Beispiel für die am weitesten verbreitete Erklärung dienen. Die entscheidende Ursache für die Erfolge der Populisten seien die wirtschaftlichen Probleme Europas und die gestiegene Arbeitslosigkeit, schrieb Christian Kern in einem vielbeachteten Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Globalisierungsverlierer revoltierten. "Das Brexit-Votum ist nur eines der Phänomene."

Die Menschen sind wegen ihrer wirtschaftlichen Lage frustriert, heißt es oft.

Auch in den USA und in Großbritannien dominiert diese Erklärung: Die Leute sind wegen ihrer wirtschaftlichen Lage frustriert. Ihre Wut lassen sie an "denen da oben" und denen da unten, Migranten und Flüchtlingen, aus. Statistische Analysen der Phänomene Trump, Brexit und Hofer und die Forschung über die Gründe für Ausländerfeindlichkeit zeigen aber ein anderes Bild.

In Österreich haben die meisten Arbeiter für Hofer, die meisten Akademiker für Van der Bellen gestimmt. Auch die Kluft zwischen Stadt und Land war groß. Auf der Österreich-Karte färbten sich vor allem jene Gebiete dunkelblau, aus denen Menschen wegziehen. Das trifft zum Beispiel auf das Waldviertel, die Obersteiermark und das Südburgenland zu. In Summe ergab sich daraus ein Bild, das zu der Erklärung von Kanzler Kern passt: Die wirtschaftlich Abgehängten drücken ihren Protest aus.

Eine statistische Analyse des STANDARD zeigt aber auch, dass die Leute in den Problemregionen nicht häufiger Hofer wählen. Weil junge Frauen und Akademiker wegziehen, bleiben schlicht die übrig, die sowieso blau gewählt hätten. Auch die allgemeine Kluft zwischen Stadt und Land lässt sich zumindest zu einem großen Teil damit erklären, dass die Bildungsschicht in Städten lebt.

Hofer-Wähler schätzen ihre finanzielle Situation nur geringfügig pessimistischer ein als die Wähler von Van der Bellen.

Hofer-Wähler schätzen ihre finanzielle Situation in den nächsten Jahren zwar etwas pessimistischer ein als die Wähler von Van der Bellen, die Unterschiede sind aber gering. Die Arbeitslosigkeit ist unter Menschen mit Lehrabschluss fast genauso niedrig wie unter Maturanten und Akademikern. Sie sind laut Forschungsinstitut Sora auch ähnlich zufrieden mit ihrem Job.

Ein Blick in die USA und nach Großbritannien zeigt ein ähnliches Bild. Junge Briten haben es wirtschaftlich viel schwerer als ältere, haben aber großteils für den Verbleib in der EU gestimmt. Eine Analyse der Resolution Foundation, einer Denkfabrik, zeigt, dass die wirtschaftliche Lage der Region keinen Einfluss auf das Brexit-Votum hatte. Auch das Einkommen der Menschen war irrelevant, die Bildung hingegen entscheidend, wie eine Analyse der Wahlergebnisse der Denkfabrik Bruegel zeigt.

Seine Chancen, Präsident zu werden, steigen: Donald Trump.
Foto: apa / afp / samad

Wer also auf einer höheren Schule oder einer Uni war, stimmte auch dann selten für den Brexit, wenn er nicht gut verdient. Ein Akademiker in der Kreativindustrie verdient oft weniger als ein Arbeiter bei einem großen Betrieb, in ihrer politischen Einstellung trennen sie trotzdem Welten.

Auch in den USA ist dasselbe Muster erkennbar. Dass vor allem die wirtschaftlich Abgehängten für Donald Trump sind, ist nicht mehr als ein Mythos, wie die bisher umfassendste Befragung des Meinungsforschungsinstituts Gallup zum Thema zeigt.

Wenn es also kaum die schwierige wirtschaftliche Lage oder die negativen Auswirkungen der Globalisierung sind, die eine Erklärung bieten, was dann?

Was macht Konservative konservativ und was Liberale liberal?

Es sind 371 Seiten, die die Basis für einen anderen Ansatz liefern. Mit seinem Buch The Righteous Mind hat der Sozialpsychologe Jonathan Haidt 2012 in den USA einen Bestseller gelandet. Warum, wollte er wissen, sind manche Leute konservativ, wollen also, dass sich nicht allzu viel ändert, und manche sind liberal und weltoffen?

Bei offeneren Menschen dominiert das Individualistische. Wenn eine Handlung keinem wehtut, ist sie okay. Gegen die Homoehe lässt sich so etwa nichts einwenden. Neues verängstigt sie nicht. Rechtspopulisten sprechen sie selten an.

Ein Vortrag des Sozialpsychologen Jonathan Haidt vom August 2016.
American Psychological Association

Weniger Offene kümmern sich auch um das Wohl ihrer Nächsten, sie orientieren sich aber mehr an einer Gruppe als am Individualistischen. Die Gruppe kann die Familie, das Dorf oder die Nation sein. Jede Gruppe braucht Regeln und Normen, damit sie funktioniert, Strafen fördern die Kooperation, über Regelbrecher zu tratschen oder sich für Verstöße zu schämen gehört dazu. In diesem Weltbild muss sich die Homoehe mühsam durchsetzen, sie widerspricht der Konvention, etwa der strikten Vorstellung von Männlichkeit, die man gewohnt war. Unter ihnen angeln Trump, Hofer und Co.

Die Evolution, das Leben in Stämmen, hat den Wert der Gruppe in den Menschen eingraviert. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung legen sie dieses starke Gruppendenken langsam ab, sagt Haidt. Ein Rest bleibt aber, bei manchen eben mehr und bei manchen weniger. Haidt hat seine Theorie in Reden und Medienbeiträgen auf die aktuelle Lage der Welt angewandt.

Aber warum erfreuen sich Rechtspopulisten unter verschlosseneren Menschen immer größerer Beliebtheit? Wenn die Welt chaotisch und unsicher wirkt, sich schnell ändert, wird der Wunsch nach Stabilität und Kontrolle stärker. Haidt sieht im immer liberaleren, kosmopolitischen Denken der vergangenen Jahrzehnte den Grund für den autoritären Aufstand. Die Weltoffenen hätten kein Problem mit Zuwanderung und der Aufgabe nationaler Souveränität. Menschen mit einem anderen Weltbild schon.

Besserverdiener, die für harte Strafen eintreten, stimmten zu einem großen Teil für den EU-Austritt.

Wenn das Gruppendenken in einem Menschen dominiert, hält man scharfe Strafen für Regelbrecher für wichtiger. Eric Kaufmann von der University of London kann so etwa an der Einstellung zur Todesstrafe vorhersagen, ob jemand für den Brexit war. "Es spielte im Wahlkampf keine Rolle, verrät uns aber viel", sagt der Nationalismus-Forscher zum STANDARD. Besserverdiener, die für harte Strafen eintreten, stimmten zu einem großen Teil für den EU-Austritt, sagt er.

Kaufmann hält den progressiven kulturellen Wandel, anders als Haidt, für nicht so wichtig. "Das ging zuletzt nicht schneller als früher." Entscheidend sei die Zuwanderung und das damit einhergehende Gefühl, dass das eigene Land nicht mehr so sei, wie man es kenne. Die Zuwanderung nach Großbritannien hat sich in den 2000er-Jahren stark beschleunigt. Skepsis sei legitim. "Zwischen dem Wunsch, dass sich die eigene Welt nicht zu sehr ändert, und Rassismus ist ein großer Graubereich." Auch wenn Lügen und Vorurteile die Debatte prägen.

Studien zeigen, dass Sorgen um die eigene Kultur wesentlich wichtiger für die Einstellung gegenüber Ausländern sind als die wirtschaftliche Lage der Person oder des Landes. Die finanzielle Situation oder eine Rezession kann aber weiter verunsichern.

Einer der Strippenzieher hinter dem Brexit: Nigel Farage.
Foto: apa / afp / florin
Sie sind nicht wirtschaftlich abgehängt, sondern wenn, dann kulturell.

Auch in Österreich wünscht sich jeder Zweite weniger Migranten im Land und sieht Kultur und Identität gefährdet. Das war schon Jahre vor der Flüchtlingskrise so. Wer das Gefühl hat, dass es mit Österreich bergab geht, fühlt seine Kultur eher durch Migration bedroht, sagt der Sora-Wahlforscher Christoph Hofinger, der der Analyse des Brexit-Votums mit der Todesstrafe viel abgewinnen kann. Es seien vor allem Pessimisten, die weniger Zuwanderer wollen. Dabei leben gerade sie viel seltener in Gegenden mit vielen Ausländern.

Genauso ist es auch bei Befürwortern von Trump und Brexit: Es ist nicht so sehr die eigene, missliche Lage, sondern die Wahrnehmung, wie es um das Land steht und wie es sich verändert. Die Menschen sind dieser Lesart zufolge nicht wirtschaftlich abgehängt, sondern wenn, dann kulturell. Nach dem Psychologen Haidt organisiert sich eine Gruppe dann hierarchisch, wenn sie sich und ihre Regeln bedroht sieht.

In Österreich stimmen mittlerweile fast 40 Prozent zu, dass es einen starken Führer brauche, der sich nicht um Wahlen scheren muss. 2007 waren es nur zehn Prozent.

Trifft diese Interpretation zu, ist nicht ein Investitionsprogramm oder ein Paket gegen die Arbeitslosigkeit die Lösung. Vielmehr braucht es eine Auseinandersetzung mit dem, was so vielen gegen den Strich geht. (Andreas Sator, 1.10.2016)