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Von links nach rechts: David Thouless, F. Duncan M. Haldane und J. Michael Kosterlitz.

Fotos: Univerity of Cambridge/REUTERS, Dominic Reuter/Brown University

Stockholm – Der heurige Physiknobelpreis geht an drei in den USA arbeitende Quantenforscher aus Großbritannien: zur einen Hälfte an den gebürtigen Schotten David J. Thouless (University of Washington), zur anderen an F. Duncan M. Haldane (Princeton University) aus England und J. Michael Kosterlitz (Brown University) aus Schottland. Die drei theoretischen Physiker wurden dafür ausgezeichnet, dass sie "die Geheimnisse exotischer Materiezustände enthüllten".

Tür in andere Welt geöffnet

Die diesjährigen Preisträger öffneten die Tür zu einer unbekannten Welt, in der Materie in seltsamen Zuständen existiert, heißt es in der Begründung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Entdeckungen brachten einen Durchbruch beim theoretischen Verständnis "rätselhafter Materie" und eröffneten neue Perspektiven für die Entwicklung innovativer Materialien. Um das anschaulich zu erklären, kam Gebäck zum Einsatz:

Die Physik extrem dünner Schichten ist völlig anders als die der Welt um uns herum, und um sie theoretisch besser zu verstehen, verwendeten die drei Physiker sogenannte topologische Konzepte. Topologie als Teilgebiet der Mathematik befasst sich mit den Eigenschaften mathematischer Strukturen, die unter stetigen Verformungen erhalten bleiben, und kann die schrittweise Veränderung dieser Eigenschaften beschreiben.

Mit der Topologie als Werkzeug konnten Michael Kosterlitz und David J. Thouless Anfang der 1970er-Jahre zeigen, dass entgegen der bis dahin geltenden Theorie Supraleitung, also der völlig verlustfreie Transport von Strom, auch in dünnen Schichten möglich ist. Solche dünnen, zweidimensionalen Schichten sind für Wissenschafter besonders interessant, weil dort eine völlig andere Physik als in der üblichen dreidimensionalen Welt vorherrscht.

Phasenübergänge

Das betrifft auch Phasenübergänge, beispielsweise das Schmelzen von Eis zu Wasser oder das Kondensieren von Dampf zu einer Flüssigkeit. Kosterlitz und Thouless erreichten mit ihrer Arbeit ein völlig neues Verständnis von Phasenübergängen in dünnen Schichten, "die als eine der bedeutendsten Entdeckungen in der Festkörperphysik des 20. Jahrhunderts gilt", so das Nobelkomitee. Das Wunderbare daran sei, dass dieser Kosterlitz-Thouless-Übergang (KT-Übergang) universell sei und bei verschiedenen zweidimensionalen Materietypen genutzt werden könne.

Thouless und Haldane legten zudem in den 1980er-Jahren neue Theorien vor, die im Widerspruch zu bis dahin geltenden Annahmen standen, welche Materialien Strom leiten, speziell bei sehr niedrigen Temperaturen und in starken Magnetfeldern. Auch hier spielten topologische Konzepte eine entscheidende Rolle.

Lange Geschichte der Preiswürdigkeit

Mithilfe der Topologie konnte Thouless etwa den Quanten-Hall-Effekt theoretisch beschreiben: Der deutsche Physiker Klaus von Klitzing bemerkte, dass in Halbleitern bei sehr tiefen Temperaturen und in starken Magnetfeldern die elektrische Spannung nicht gleichmäßig, sondern sprunghaft wächst – er erhielt dafür 1985 den Physiknobelpreis.

Heute werde über topologische Isolatoren, topologische Supraleiter oder topologische Metalle gesprochen, es seien dies Beispiele für Forschungsgebiete an vorderster Front der Festkörperphysik in den vergangenen Jahren, betonte man seitens des Nobelkomitees.

Die bahnbrechenden Arbeiten der drei heurigen Laureaten wurden bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren veröffentlicht. Haldane, der bei der Bekanntgabe des Preises live am Telefon zugeschaltet war, dachte ursprünglich nicht, dass seine theoretischen Vorhersagen auch einmal praktische Umsetzungen haben würden. Aber dazu kam es tatsächlich, unter anderem durch die Entdeckung von Graphen oder einer neuen Klasse von Supraleitern. All das spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Quantencomputern.

Reaktionen aus Österreich

Als "sehr gerechtfertigt" bezeichnete Karsten Held vom Institut für Festkörperphysik der Technischen Universität (TU) Wien die Preisvergabe. "Wenn man heute zu einer Festkörperphysik-Konferenz fährt, behandelt die Hälfte der Vorträge topologische Eigenschaften von Materialien", so Held.

Das Nobelpreiskomitee habe "vielleicht etwas konservativ agiert", indem es den Nobelpreis an die länger zurückliegenden Arbeiten der drei Laureaten vergeben habe und nicht an jene Arbeiten, "die vor ein paar Jahren das ganze Feld neu aufgemischt haben", betonte der Physiker. Dennoch sei die Vergabe "sehr berechtigt", weil die drei damals "die Grundlagen für etwas gelegt haben, was zurzeit in der Festkörperphysik sehr aktuell ist".

Metalle oder Isolatoren etwa könnten aufgrund ihrer ungewöhnlichen Topologie ungewöhnliche Eigenschaften haben, sagte Held, der die ungewöhnliche Topologie am ehesten mit besonderen Zuständen der Elektronen beschreibt, die sich von einem gewöhnlichen Metall oder Isolator unterscheiden.

Mittlerweile versuche man, Materialien mit ungewöhnlichen Topologien gezielt herzustellen, wobei dies "ein Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment ist, wo man versucht, gemeinsam neue Systeme zu finden". Grundsätzlich sei das ganze Gebiet aber sehr von der Theorie getrieben gewesen. "Es gab sehr viele theoretische Vorhersagen, experimentell ist es wesentlich schwieriger, diese topologischen Eigenschaften nachzuweisen."

Von Grundlagen zu Anwendungen

Dass die Erkenntnisse der diesjährigen Preisträger "auf rein theoretischen Arbeiten" beruhen, betonte auch der Experimentalphysiker Rudolf Grimm vom Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) in Innsbruck. Wichtig waren die Arbeiten aus den 1980er-Jahren vor allem, weil sie das "sehr fundamentale Konzept" der Topologie einführten. Sie hätten gezeigt, "dass Dinge inklusive Materiezustände eine gewissermaßen robuste Gestalt haben, die man nicht so leicht verändern kann", sagte Grimm. Man könne also nicht einfach durch sanfte Änderungen ein System in ein anderes überführen. Dazu brauche es schon massive Änderungen, etwa der Anzahl der Löcher

Mögliche Anwendungen ergeben sich etwa in Richtung Quantencomputer, einem der Hauptforschungsfelder am IQOQI. Auch hier könnten derart geschützte topologische Zustände genutzt werden, weil deren Quanteneigenschaften eben so robust sind. Der Kosterlitz-Thouless-Übergang (KT-Übergang) sei auch bereits in kalten Gasen, einem Forschungsschwerpunkt Grimms, beobachtet worden. Das Interesse an "topologisch geschützten Zuständen" sei in vielen Bereichen momentan entsprechend groß.

Stichwort Topologie

"In der Topologie beschäftigt man sich zunächst mit allen Formen, die man erreicht, ohne dafür neue Löcher in ein Objekt zu stanzen", sagt Herbert Edelsbrunner vom Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg. Die Topologie steht auch im Zentrum der Arbeit des Mathematikers und Informatikers, der als Gründungsvater der Computertopologie gilt.

So kann man etwa aus einem schwimmreifenförmigen Tonklumpen durch Verformen, Verdicken und Verdünnen ein Kaffeehäferl mit einem Henkel machen. "Es entstehen dafür aber keine neuen Löcher, und man braucht auch keine neuen Verbindungen", sagte der Forscher. Muss sozusagen geschnitten oder geklebt werden, "braucht es stärkere topologische Operationen". Mit zweidimensionalen Räumen hat man diese Vorgänge schon seit geraumer Zeit gut im Griff. Mit dreidimensionalen Räumen "wird es sehr schwierig und mit vierdimensionalen Räumen hoffnungslos", so der Mathematiker.

In Metallen bilden etwa Millionen von Atome Cluster, die man als Körner bezeichnen kann und die regelmäßige Gitter bilden. An den Stellen, wo diese Körner zusammenstoßen, passen die Körner geometrisch nicht ganz zusammen, und es bilden sich Löcher, die letztendlich die Eigenschaften beeinflussen. Wird das Material erhitzt, werden die Körner größer und weniger, und dementsprechend verändern sich auch die Löcher.

Das hat dann etwa Einfluss auf die Eigenschaften von Metallen, die beispielsweise in Motoren eingesetzt werden. "Um das zu erfassen, braucht man topologische Verfahren", sagte Edelsbrunner. Daher sei etwa die Motorenindustrie an dem Gebiet interessiert, mit dessen Hilfe man zu klären versucht, wie die Metallherstellung verändert werden muss, um bessere Materialen zur Verfügung zu haben.

Keine Gravitationswellen

Viele hatten im Vorfeld erwartet, dass der spektakuläre Nachweis von Gravitationswellen, der heuer gelang, mit dem Physiknobelpreis belohnt werden würde. Wirklich realistisch war das aber aus formalen Gründen nie: Der Nachweis wurde in der zweiten Februarwoche diesen Jahres veröffentlicht, und die Frist für Nobelpreis-Einreichungen läuft mit 1. Februar aus. Dass die Akademie so flexibel reagieren würde, dafür heuer schon den Nobelpreis zu vergeben, wäre eine große Überraschung gewesen.

Im vergangenen Jahr wurde der Nachweis der Neutrino-Masse ausgezeichnet. Den Preis teilten sich der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald für ihre Entdeckung von Neutrino-Oszillationen.

So geht es weiter

Am Mittwoch ab 11.45 Uhr folgt die Bekanntgabe des Chemienobelpreisträgers respektive der Preisträger, womit die wissenschaftlichen Kategorien für heuer abgeschlossen wären. Danach werden am Donnerstag der Literatur- und am Freitag der Friedensnobelpreis verkündet.

Alle Nobelpreise sind mit je acht Millionen schwedischen Kronen (umgerechnet etwa 831.500 Euro) dotiert. Überreicht werden sie am 10. Dezember, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel. (red, APA, 4.10.2016)