Der britische Teilchenphysiker Peter Higgs wurde durch das Teilchen bekannt, das er vorhersagte und welches nach ihm benannt wurde. Derzeit ist er auf Einladung der Akademie der Wissenschaften in Wien.

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STANDARD: Als Sie Ihre ursprüngliche Arbeit zum Higgs-Mechanismus einreichten, war der Tenor am Kernforschungszentrum Cern, wo das Paper die Runde machte, dass es "no relevance for physics" hätte, wie Ihnen ein Kollege, der gerade dort war, berichtete. Wie nahmen Sie die Ablehnung auf?

Higgs: Ich war nicht sehr überrascht von dieser Ablehnung, aber natürlich enttäuscht. Die Art von theoretischer Arbeit, die ich und andere zu dieser Zeit in Brüssel und in London unabhängig voneinander verfolgten, war damals nicht in Mode. Viele Physiker dachten, dass diese Theorie nicht funktionieren würde und keine Bedeutung hätte.

STANDARD: Hatten Sie je Zweifel an Ihrer Theorie?

Higgs: Was ich tat, war, einige Schwierigkeiten einer Theorie zu lösen, die 1960 vom Japaner Yoichiro Nambu aufgestellt worden war, der den Physiknobelpreis 2008 gewonnen hat. Es gab einige Leute, die die Arbeit an dieser Art von Theorien fortsetzten. Ich war einfach überzeugt davon, dass das der Weg war, den wir weiterverfolgen sollten.

STANDARD: Und was machten Sie mit Ihrem abgelehnten Paper?

Higgs: Ich ergänzte einige Absätze und reichte das Paper bei einem anderen Journal ein. Wie ich viele Jahre später herausfand, war der Gutachter, der es schließlich akzeptierte, Yoichiro Nambu selbst.

STANDARD: Bevor das Higgs-Teilchen 2012 am Large-Hadron-Collider (LHC) am Cern gefunden wurde, hatte Ihr Kollege John Ellis in seinem Aufsatz "Higgs Physics" die Frage "To higgs or not tohiggs?" gestellt. Mittlerweile wissen wir, dass das Higgs-Teilchen existiert. Unklar ist aber, wie viele Higgs-Teilchen es gibt – was ist Ihre Einschätzung?

Higgs: Ich glaube nicht, dass ich eine sehr gut informierte Einschätzung abgeben kann, aber ich möchte eine Hoffnung ausdrücken – und zwar dieselbe, die John Ellis hat: Es sollte mehr als ein Higgs-Teilchen geben. Denn für viele von uns liegt der Weg nach vorn in der Vereinheitlichung von Teilchenphysik und Kosmologie in der Supersymmetrie. Und diese Theorie scheint zu verlangen, dass es mehr als ein Higgs-Teilchen gibt.

STANDARD: Der Higgs-Mechanismus ist essenziell, um zu erklären, wie Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Unklar bleibt, wie die Masse des Higgs-Teilchens zustande kommt. Haben Sie eine Idee?

Higgs: Nein. Ich glaube, man muss diese Frage durch Experimente lösen. Im Übrigen finde ich nicht, dass der Mechanismus Higgs-Mechanismus heißen sollte.

STANDARD: Wie sonst?

Higgs: Es gibt nun die Konvention, ihn Brout-Englert-Higgs-Mechanismus zu nennen. Auch Nambu und Jeffrey Goldstone hatten diesen Mechanismus bereits beschrieben. Übrigens wird das Teilchen, das am Cern vor vier Jahren entdeckt wurde, fast überall auf der Welt Higgs-Boson genannt – nur nicht in Brüssel.

STANDARD: In Massenmedien ist immer wieder vom Gottesteilchen die Rede – was halten Sie davon?

Higgs: Dafür bin ich nicht verantwortlich. Zu dieser Bezeichnung kam es eher zufällig: Der Physiker Leon Lederman hatte ein populäres Buch geschrieben, das er "The Goddamn Particle" nennen wollte. Seine Verleger sagten ihm, dass man es so nicht nennen kann, und sie einigten sich auf "The God Particle". Ich glaube, dass Lederman einige wütende Briefe von Physikern bekam, die ihn dafür kritisierten, Wissenschaft und Theologie zu vermischen.

STANDARD: Nachdem das Higgs-Teilchen am Cern gefunden worden war, war es klar, dass Sie den Nobelpreis bekommen würden – wie erfuhren Sie davon als es schließlich so weit war?

Higgs: Nachdem die Entdeckung 2012 erfolgte, hatte ich eine Vorwarnung, was passieren würde. Ende September 2013, vereinbarte ich mit den Pressebeauftragten der Universität Edinburgh, am Ende der Woche der Bekanntgabe eine Pressekonferenz zu machen, aber in der Zwischenzeit würde irgendwo anders sein. Ich sagte meinen Freunden, dass ich für ein paar Tage in den Highlands von Schottland sein würde, aber in der letzten Minute entschied ich, dass das nicht sehr praktikabel war und ich blieb in Edinburgh. Am Vormittag verließ ich aber das Haus und nahm mein Mittagessen in einem meiner Lieblingslokale in der Hafengegend von Edinburgh ein. Erst als ich zurück war, erfuhr ich die Nachricht.

STANDARD: Es wird behauptet, Sie hätten Ihren ersten Computer bekommen, als Sie 80 waren – so stellt sich die Frage, wie viel Sie von hochtechnischen Experimenten wie jenen am Cern mitverfolgen können?

Higgs: Ja, ich bekam meinen ersten Laptop 2010, natürlich ein MacBook, als ich 80 Jahre war. Ich bin tatsächlich nicht sehr gut darin, Plots von Daten zu verstehen. Ich bin ein Theoretiker, der immer eher in der Isolation gearbeitet hat. Doch ich habe auch ein paar Mal Vorhersagen von Experimenten gemacht, die sich als richtig herausgestellt haben. Ein bisschen verstehe ich gelegentlich also doch davon.

STANDARD: Sie haben einmal bemerkt, dass es Zeiten gab, als Sie beschämend für Ihr Department waren, weil Sie so wenig veröffentlicht haben. Wie denken Sie über die akademische Kultur heutzutage?

Higgs: Ich weiß nicht, wie ich in das aktuelle System passen würde. In den 1980er-Jahren hatte ich begonnen, in der Supersymmetrie zu arbeiten und kam zum Schluss, dass ich einfach zu alt war. Alle anderen Leute im Feld waren 25 Jahre jünger als ich und hatten gerade erst ihre Doktorarbeiten abgeschlossen. Es kam mir hoffnungslos vor, mit diesen Leuten zu konkurrieren, und meine Publikationen gingen drastisch zurück. Ich habe insgesamt etwa 20 wissenschaftliche Publikationen verfasst – die meisten können eine viel größere Zahl präsentieren. Und im kompetitiven akademischen Betrieb werden die Stellen mittlerweile nach Publikationsleistung vergeben.

STANDARD: Neben Stephen Hawking sind Sie wohl der prominenteste zeitgenössische Physiker. Geht damit auch eine gesellschaftliche Verantwortung einher?

Higgs: Ich denke, ja. Was politische Fragen angeht, habe ich das erst kürzlich erlebt. Vergangenen Sommer hat der Nobelpreisträger Paul Nurse ein Rundschreiben an britische Nobellaureaten verfasst, sie mögen einen Brief unterschreiben, in dem sie sich gegen den Brexit aussprechen. Dazu habe ich eine große Verpflichtung gefühlt. (Tanja Traxler, 19.10.2016)