In der Rolle als verpeilter Jungarchitekt im Beziehungsdrama "Alle anderen" wurde er über die Grenzen des Theaters hinaus bekannt: In Oliver Assayas' Filmen "Die Wolken von Sils Maria" und "Personal Shopper" spielt Lars Eidinger an der Seite von Hollywoodstar Kristen Stewart.

Foto: Benjakon

Lars Eidinger wurde in Berlin geboren – und lebt auch heute noch (gemeinsam mit seiner Frau, der Opernsängerin Ulrike Eidinger, und der gemeinsamen Tochter) dort.

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Seine Theaterheimat ist die Berliner Schaubühne. Legendär ist Eidingers Verkörperung des Hamlet, mit dem er bereits durch halb Europa tourte.

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STANDARD: Spätestens seit dem Film "Alle anderen" verkörpern Sie den modernen, deutschen Mann: kein Macho, behaftet mit Selbstzweifeln, auf der Suche nach seiner Rolle im Leben. Hat das etwas mit dem zu tun, wie Sie sich selbst fühlen?

Lars Eidinger: Diese Beschreibung kam von außen, so etwas überlegt man sich nicht selbst. Im Film haben wir die Situation unserer Generation beschrieben und uns mit uns selbst beschäftigt. Dass das so rezipiert wurde, war die Bestätigung, dass wir einen Nerv getroffen haben. Die perfekte Hochglanzästhetik, die in den Achtzigern aufkam, hat uns dazu verführt, an eine Welt zu glauben, die es so nicht gibt.

STANDARD: Na gut: Den perfekten Mann gibt es nicht. Und jetzt?

Eidinger: Lange hat man gedacht, die Frau muss sich emanzipieren, indem sie sich dem Mann annähert. Jetzt gibt es die Tendenz, dass sich Geschlechter eher auflösen. Postgender. Es gibt Musiker, bei denen weiß man nicht, ob sie ein Mann oder eine Frau sind. Rap war lange eine rein männliche Domäne, jetzt gibt es homosexuelle Rapper wie Frank Ocean oder Mykki Blanco, die auch ihre weibliche Seite betonen.

STANDARD: Wie nahe ist Ihnen persönlich dieses Männerbild?

Eidinger: Sehr nahe. Das hat damit zu tun, wie ich meinen Beruf sehe. Wenn ich eine Figur spiele, dann suche ich diese Figur erst mal in mir. Ich gucke nicht auf andere Leute. Dabei habe ich viel über mich selbst gelernt. Dass ich mir die Fingernägel lackiere, das hätte ich mich früher nicht getraut.

STANDARD: Seit wann lackieren Sie sich die Nägel?

Eidinger: Seit etwa 15 Jahren.

STANDARD: Warum machen Sie das?

Eidinger: Der gesellschaftliche Druck ist so groß, dass ich den Eindruck habe, man kann sich nicht uneingeschränkt ausdrücken. Man hält sich zurück, bleibt in der Angst stecken. Ich fühle einen Wunsch in mir nach Expressivität. Das betrifft auch die Kleidung, die Erscheinung – und auch die Fingernägel.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass Ihre Rollen Ihnen dabei geholfen haben, Ihre Gefühle auch im richtigen Leben besser auszudrücken.

Eidinger: Ich kann mich erinnern, dass ich als Teenager mein Lachen durchs Kiffen wiedergefunden habe. Diese Zustände absoluter Gelöstheit haben mir dabei geholfen. Mein Beruf ist wie eine bewusstseinserweiternde Droge. Ich befinde mich in einem rauschhaften Zustand, wenn ich spiele. Das hat mit einer Hypersensitivität zu tun, der Atmosphäre im Raum gegenüber, man hat das Gefühl, die Zeit dehnt sich. Man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, Fiktion habe mit der Realität nichts zu tun. Wie über das Kiffen zu meinem Lachen, finde ich über das Spiel zu meiner Emotionalität.

STANDARD: Empfinden Sie sich als männliches Role-Model?

Eidinger: Nein. Mein Beruf ist für mich reiner Selbstzweck. Aber ich habe natürlich die Hoffnung, dass, wenn ich mich auf der Bühne oder im Film mit mir selbst beschäftige, der Zuschauer auch etwas für sich selbst mitnimmt.

STANDARD: Was könnte er mitnehmen?

Eidinger: Dass man nicht perfekt sein muss. Ich wurde von Juergen Teller fotografiert, obwohl mir die Haare ausfallen. Wenn ich es schaffe, mit so einem Makel begehrt zu werden und erfolgreich zu sein, dann verändert das ein Stück weit auch die Gesellschaft. Oder wie Lady Gaga sagt: "Lasst uns unsere Makel berühmt machen und dadurch das Abscheuliche neu definieren."

STANDARD: In Ihrem jüngsten Film "Die Blumen von gestern" ist Ihre Glatze ein Merkmal der Figur, die Sie spielen.

Eidinger: Die Glatze wurde betont, sie wurde heller geschminkt. Ich habe zum Glück noch nie einen Filmemacher getroffen, der gesagt hat, die Glatze stört mich kolossal, ich nehme einen anderen Schauspieler. Umgekehrt ist es so, dass man gar nicht mehr den Fernseher anschalten kann, ohne dass einen Frauen mit Mösen im Gesicht angucken.

STANDARD: Wie bitte?

Eidinger: Die Münder all dieser operierten Frauen schauen aus wie Mösen. Mich stößt das ab!

STANDARD: Männer sind dem Schönheitsdiktat ähnlich ausgesetzt wie Frauen. Spüren Sie diesen Druck auch?

Eidinger: Früher mussten Männer stark sein, sie durften nicht weinen, sich keine Emotionalität erlauben. Das war auch anstrengend. Heute ist man als Mann fast dazu aufgefordert, Gefühle zu zeigen. Die wichtige Erkenntnis ist, dass es kein System von außen gibt, das uns zu etwas zwingt, sondern dass wir selbst Protagonisten unserer eigenen Realität sind. Am besten man fängt bei sich selbst an und sagt: Scheiße, mir fallen die Haare aus, aber das ist das Leben!

STANDARD: Mit Makel muss man erst einmal lernen umzugehen.

Eidinger: Wenn man sich Werbungen ansieht, wo Frauen gezeigt werden, wie sie wirklich sind, merkt man, wie schwierig das ist. Ich ertappe mich dabei, dass ich das nicht sehen will. Ich will die fotogeshoppten Topmodels sehen! Ich schätze, wir müssen da unsere Sehgewohnheiten ändern.

STANDARD: Der Holocaustforscher Toto, den Sie in "Die Blumen von gestern" spielen, ist alles andere als ein Vorzeigemann. Er ist neurotisch, aufbrausend und impotent. Ist es nicht schwierig, wenn man als Schauspieler klüger als der Charakter ist?

Eidinger: Klüger würde ich nicht sagen, aber ja, ich musste gegen meine eigene Intuition anspielen. Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, dachte ich mir ständig: Oh Gott, jetzt schalt mal einen Gang runter! Diese Figur reagiert oft völlig inadäquat und übertrieben. Ich hatte große Schwierigkeiten, diesen Charakter zu finden. Aber vielleicht hat das damit zu tun, wie nahe mir diese Figur ist.

STANDARD: Der Schlappschwanz Toto?

Eidinger: Von meiner Veranlagung her bin ich eher ein Soziopath als ein Menschenfreund.

STANDARD: Wenn Toto nicht mehr weiterweiß, schlägt er zu.

Eidinger: Ich habe eine gewisse Zwanghaftigkeit in meinem Verhalten. Wenn zwanghafte Charaktere in einem Punkt unrecht haben, sehen sie ihr ganzes Weltbild gefährdet. Ich will mich aber nicht dem Umstand fügen, dass ich so veranlagt bin. Das unterscheidet mich von der Generation vor mir, die einen oft mit Sätzen konfrontiert wie: "So bin ich halt! Ich kann mich nicht ändern!" Ich will mich aber ändern.

STANDARD: Sie wollen ein anderer sein?

Eidinger: Ich betreibe wahnsinnig viel Aufwand, anders zu wirken, obwohl es meinem Temperament entspricht, cholerisch und aggressiv zu sein. Wenn ich hier sitze, glauben Sie vielleicht, ich wäre selbstbewusst, ausgeglichen und sympathisch ...

STANDARD: ... aber am liebsten würden Sie mir ins Gesicht schlagen?

Eidinger: Nö, das nicht. Aber kein Schauspieler ist selbstbewusst. Wer selbstbewusst ist, stellt sich nicht auf eine Bühne. Ich würde mich als komplexbeladen und verängstigt beschreiben, als jemand, der sich eine Bühne sucht, um Bestätigung von außen zu erfahren und sich seinen Ängsten zu stellen.

STANDARD: Wahrscheinlich ist es genau das, was die Öffentlichkeit an Ihnen spannend findet. Inwieweit gibt es den Impuls, mit der Ego-Nummer zu übertreiben?

Eidinger: Diese Gefahr schwingt immer mit, klar, und es ist ja auch schon vielen Schauspielern passiert: dass sie zu ihrem eigenen Klischee verkommen.

STANDARD: Was ist so ein typisches Lars-Eidinger-Klischee?

Eidinger: Dass ich, wenn ich Platten auflege, meine Hosen runterziehe. Ich habe das immer gemacht. Ab einem gewissen Alkoholpegel bin ich auf den Tisch gesprungen und habe mich ausgezogen – aus Übermut. Wenn man prominenter wird, verliert man aber die Kontrolle darüber, wie einem so etwas ausgelegt wird und was das für Wellen schlägt. Heute mache ich das nicht mehr.

STANDARD: Weil Sie eine öffentliche Person sind?

Eidinger: Meryl Streep hat einmal zu mir gesagt: Eines jeden Glaubwürdigkeit kann mit einer einzigen Äußerung in sich zusammenfallen. Ich nehme für mich in Anspruch, offen, direkt und ehrlich zu sein. Im Hinterkopf weiß ich aber, dass ich mich dadurch extrem angreifbar mache.

STANDARD: In "Die Wolken von Sils Maria" haben Sie neben Juliette Binoche und Kristen Stewart gespielt. Mit Stewart haben Sie "Personal Shopper" gedreht. Hebt man da ab?

Eidinger: Die Gefahr bestand gar nicht. Ich war eher ernüchtert, weil ich gemerkt habe, dass ich mit der Welt von Kristen Stewart gar nichts zu tun habe. Ich würde gerne sagen: Die kochen auch nur mit Wasser. Aber die kochen mit Pepsi!

STANDARD: Mit Pepsi?

Eidinger: Kristen Stewart kann kein normales Leben führen, so wie ich das mache. Wenn die von ihrem Grundstück fährt, fahren zuerst einmal zwei Limousinen raus, um den Anschein zu erwecken, da sitzt sie drin.

STANDARD: Haben Sie schauspielerisch profitiert, mit einer Hollywoodschauspielerin zu spielen?

Eidinger: Es war wie eine Erleuchtung. In "Personal Shopper" habe ich eine lange Szene mit Kristen Stewart. Da ist mir bewusst geworden, wie sehr ihr Spiel meinem Ideal entspricht. Schauspielerei hat bei ihr nicht mit Lügen und Verstellung zu tun. Im Gegenteil, sie ist immer aufrichtig dem Moment, dem Partner, dem Zuschauer und sich selbst gegenüber. Das führt zu einem wahnsinnig authentischen Spiel.

STANDARD: Zurück zu Toto: Er kommt aus einem Nazihaushalt ...

Eidinger: ... ich komme auch aus einem Nazihaushalt.

STANDARD: Wirklich?

Eidinger: Alle Deutschen kommen aus einem Nazihaushalt.

STANDARD: Das klingt wie: Alle Deutschen waren Nazis.

Eidinger: Das ist doch so! Das war eine Massenbewegung. Die absolute Mehrheit der Deutschen hat in einer Uniform gekämpft und Leute umgebracht. Der Charakter meines Vaters ist geprägt von der Erziehung meines Großvaters. Das schwächt sich zwar ab über die Generationen, aber dennoch bin ich unmittelbar betroffen.

STANDARD: Spielen Sie den Holocaustforscher Toto, um sich mit Ihrer Herkunft auseinanderzusetzen?

Eidinger: Auch. Ich war immer vorsichtig, was das Thema anbelangt, denn ich fand es oft fatal, wie deutsche Geschichte nacherzählt wird. Man läuft immer Gefahr, die Geschichte zu verklären oder sogar zu verfälschen.

STANDARD: Der Film ist eine schwarze Komödie. Es stellt sich die Frage, wie weit man bei dem Thema humoristisch gehen darf.

Eidinger: Ich finde, man darf über den Holocaust nicht lachen. Aber das machen wir auch nicht. Man lacht über die Figuren und deren Umgang mit dem Holocaust. Das ist ein entscheidender Unterschied. Der Film ist weder Komödie noch Tragödie, sondern etwas dazwischen. In seinem Mittelpunkt steht ein Charakter, der sich und die Menschen hasst. In Bezug auf den Holocaust ist das ja keine zufällige Setzung.

STANDARD: Die Nachfahren der Täter und der Opfer verlieben sich.

Eidinger: Es gibt diesen Hoffnungsmoment – die Liebe. So romantisierend, idealisierend das vielleicht klingt, liegt darin eine gewisse Schönheit. Ich selbst habe erst im Zuge der Recherchen und Vorbereitungen auf diesen Film nachgefragt, was mein Opa im Krieg gemacht hat.

STANDARD: Was haben Sie herausgefunden?

Eidinger: Er war bei der Artillerie, aber die Akte war relativ klein. Es ist grauenhaft, es sich einzugestehen, aber: Diese Männer, die in ihren Wohnzimmern saßen, sind Menschen, die aus dem Krieg gekommen sind, wo sie Leute umgebracht haben. Das ist unsere jüngste Vergangenheit, und wir haben sie komplett ausgeblendet. Die Frage ist: Was hat das mit uns gemacht? Inwieweit sind wir davon geprägt?

STANDARD: Und wie stark hat es Sie geprägt?

Eidinger: Ich fürchte, sehr stark. (Stephan Hilpold, RONDO, 2.1.2017)