Oberbürgermeister Boris Palmer im April 2016 anlässlich der städtischen Klimaschutzkampagne "Tübingen macht blau 2.0" auf der Neckarbrücke.

Foto: Stadt Tübingen/Gudrun de Maddalena

Das Rathaus am Marktplatz stammt aus dem Jahr 1435 und ist seit 2007 Amtssitz Boris Palmers.

Foto: Stadt Tübingen/Alexander Gonschior

Wien/Tübingen – Der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sorgt in seiner Partei mit seinen auf Facebook, aber auch in Interviews verbreiteten Ansichten regelmäßig für Empörung und Irritationen.

Im STANDARD-Interview spricht Palmer über die Gründe für seine aus der Parteilinie ausscherenden Positionen, seine Aufgabe als "Experte für tägliche Realität", linken und rechten Populismus, die Wichtigkeit, Probleme zu benennen, die moralische Pflicht, Verfolgten zu helfen, und die Schwierigkeit, dabei nicht in Euphorie zu verfallen.

STANDARD: Sie heißen mit dem zweiten Vornamen Erasmus – nach Erasmus von Rotterdam?

Boris Palmer: Der war meinem Vater wichtig.

STANDARD: Ihr Vater war für seine Haltung gegenüber staatlichen Autoritäten als "Remstal-Rebell" bekannt, was ihm auch jede Menge Schwierigkeiten einbrachte. Sie selbst sind dafür bekannt, oft kontroversielle Meinungen via Facebook zu äußern und damit einerseits Diskussionen loszutreten, andererseits handeln Sie sich damit Rügen der Parteiautoritäten ein. Haben Sie das Rebellische von Ihrem Vater?

Palmer: Ich weiß nicht, wie weit mein Vater in Österreich bekannt ist, er war in der Tat ein politischer Rebell und ein eigener Kopf, und dafür schäme ich mich nicht, sondern das halte ich für eine große Qualität. Aber mein Vater führt mir jetzt heut nicht die Hand oder den Mund. Das sind schon meine eigenen Überlegungen. Und Autoritäten waren jetzt bei den Grünen noch nie so hoch angesehen, dass man da nicht mal ein Widerwort – zum Beispiel gegen die eigene Parteivorsitzende – riskieren dürfte. Was mich treibt, ist schlicht und einfach meine Überzeugung. Wenn ich was für richtig halte, dann sage ich's, und wenn ich was für falsch halte, sage ich's auch.

STANDARD: Erasmus' "Lob der Torheit" ist eine Satire gegen das Verharren in Irrtümern und für die Vernunft. Er übt damit Kritik an den Zuständen der Kirche. Lässt sich da ein Bogen zu heutigen Themen spannen – gerade die Flüchtlingsdebatte weist ja oft dogmatische Züge auf ...

Palmer: Erasmus von Rotterdam war ja Aufklärer und Humanist. Und diesen Geist bräuchten wir heute wieder. Tatsächlich hat die Diskussion etwas Quasireligiöses, von beiden Seiten. Es gibt die Rechtspopulisten, die uns einreden wollen, das christliche Abendland geht unter und wir werden umgevolkt und unterdrückt und von einer Lügenpresse desinformiert, alles grober Unsinn. Aber es gibt auf der anderen Seite eben auch linke Illusionen, die da lauten: Flüchtlinge sind alle gute Menschen, sie fliehen vor Bomben und vor Krieg oder vor Verfolgung, und deswegen haben wir eine moralische Pflicht, sie alle bei uns aufzunehmen, wer auch immer anklopft. Und beides hat halt mit der wirklichen Welt nix zu tun. Es gibt solche Flüchtlinge, aber es gibt auch viele, die aus rein wirtschaftlichen Gründen kommen, es gibt leider auch welche, die zwar vor Bomben fliehen, aber nur um sie selber zu legen, und mit denen muss man sich halt auseinandersetzen. Und dafür braucht's dann einen klaren Blick auf die Dinge.

STANDARD: In Österreich führten die Grünen zuletzt eine Debatte über die Notwendigkeit eines linken Populismus.

Palmer: Ich kann's nicht vergleichen, dazu kenne ich Österreich und die österreichischen Grünen zu wenig. Ich bin auch kein Freund eines linken Populismus. Die Diskussion gibt es bei uns durchaus auch, zum Beispiel getrieben von "Spiegel"-Autor Jakob Augstein. Was ich fordere, ist ein linker Realismus. Ich möchte, dass man über Probleme offen spricht und nicht glaubt, die gehen von selber weg oder allein schon das Benennen von Schwierigkeiten helfe den Rechtspopulisten. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn man Schwierigkeiten, die jeder sieht, nicht mehr beschreibt, dann überlässt man das Feld den Rechtspopulisten. Und den Fehler haben wir zu lange gemacht, deswegen bin ich klar und deutlich in der Ansage, vergesse aber nicht, wie es die Rechtspopulisten meistens tun, eine rechtsstaatlich und menschenrechtlich akzeptable Lösung beizufügen. Darum geht's: Wir müssen Probleme beschreiben, Lösungen zeigen, dann können wir Wahlen gewinnen – Populismus braucht's dafür nicht.

STANDARD: Sie haben schon im Sommer 2015 zu Realismus in der Flüchtlingsdebatte aufgerufen, noch vor dem Höhepunkt der Migration. Mittlerweile fordert die grüne Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, nachträgliche Kontrollen der Asylwerber. Vor etwas mehr als einem Jahr hat sie auf dem Parteitag in Halle noch gemeint, sie freue sich auf die drastischen Änderungen in Deutschland.

Palmer: Ich habe das sehr viel früher formuliert als andere, weil ich auch in gewisser Weise Experte bin, ich bin nämlich Experte für tägliche Realität durch mein Amt als Oberbürgermeister, und ich habe die Schwierigkeiten hier vor Ort halt jeden Tag gesehen und die steigenden Zahlen und was das für uns alles bedeutet, und dass da viele dabei sind, von denen ich persönlich sagen würde: 'Ich sehe keinen Grund, warum die bei uns im Land Zuflucht erhalten sollen.' Und wenn ich so was sehe, dann halte ich das eben nicht zurück und sage auch nicht, das darf niemand wissen, sonst stärkt es die Rechtspopulisten. Sondern dann sage ich, das müssen die Leute erfahren, weil man es eh nicht unter der Decke halten kann. Und man muss gleich dazusagen, wie man damit umgeht, welche Lösungen man dafür hat. So gehe ich an Politik ran, und in meiner Stadt erhalte ich dafür viel Zustimmung.

STANDARD: Sie haben die "moralische Pflicht" gegenüber Migranten erwähnt, die viele einmahnen. Das unterscheidet die Position Deutschlands jedenfalls von zahlreichen anderen EU-Staaten wie den osteuropäischen Ländern oder Frankreich und Großbritannien. Liegen die Gründe dafür in der deutschen Geschichte? Muss Deutschland besser sein als der Rest der Welt?

Palmer: Da wage ich jetzt mal die Beschreibung eines Unterschieds zwischen Österreich und Deutschland. In Österreich hat man sich doch lange eher darauf verständigt, dass Hitler eine deutsche Erscheinung war und die Österreicher zum Mitmachen gezwungen wurden. Nicht ganz historisch richtig ... Während man in Deutschland aufgrund der totalen Niederlage die Konsequenz gezogen hat, möglichst alles anders zu machen – und dazu gehört auch der Umgang mit Flüchtlingen. Ich finde das erstmal positiv, dass wir Deutsche mehrheitlich ein Grundverständnis haben, dass die millionenfachen Vertreibungen, die wir im Dritten Reich zu verantworten haben, in der historischen Konsequenz bedeuten, dass wir Menschen, die tatsächlich Hilfe und Flucht brauchen vor Verfolgung und Krieg, Asyl oder wenigstens eine Bleibe gewähren. Allein was ich nicht möchte, ist, dass man diese historische Erfahrung anderen Nationen überzustülpen versucht. Ich verstehe nämlich sehr gut, warum die Briten und die Franzosen aufgrund ihrer ganz anderen Geschichte diese Verpflichtung nicht im gleichen Maße spüren.

STANDARD: Das neue Jahr begann mit einer Debatte über den Polizeieinsatz von Köln und über den polizeiinternen Begriff "Nafri". Sie haben das Thema auf Facebook ausführlich erörtert. Wie ist für die Grünen, Willkommenskultur und Realismus unter einen Hut bringen?

Palmer: Das ist für uns die große Aufgabe. Viele von uns waren von der Willkommenskultur begeistert, weil sie gezeigt hat, dass das Land sich positiv verändert hat. Es stimmt auch, Anfang der Neunziger war die Ablehnung von Asylbewerbern, damals vom Balkan, sehr ausgeprägt, hat rechte Parteien nach oben gebracht, und eine solche Willkommenskultur hat es nicht gegeben. Die Schwierigkeit ist halt, darüber nicht in Euphorie zu verfallen und zu idealisieren, denn es sind halt viele der Menschen, die da gekommen sind, kein Geschenk, weder für den Arbeitsmarkt noch für die Gesellschaft. Manche sind sogar eine Bedrohung, wie wir gelernt haben, und da muss man eben unterscheiden. Und das ist der Realismus, den wir jetzt brauchen: Willkommenskultur ja, nur mit der kann man nämlich einige Hunderttausend Menschen dann auch integrieren, aber keine Idealisierung der Verhältnisse, realistische Zustandsbeschreibung, klare Benennung von Schwierigkeiten und Problemen und entsprechend scharfe Maßnahmen, wo erforderlich.

STANDARD: Sie müssen sich erst wieder 2022 zur Wahl stellen, die Amtsperiode als Oberbürgermeister dauert acht Jahre. Bieten die langen Phasen ohne Wahlkampf die Möglichkeit, mehr umsetzen und erreichen zu können, als dies etwa in der Bundespolitik möglich ist?

Palmer: Kommunalpolitik hat in Baden-Württemberg eine sehr positive Tradition, und das ist auch eine Erklärung, warum das Land so erfolgreich ist. Wir haben starke Oberbürgermeister, starke Gemeinderäte, finanziell gut ausgestattete Kommunen, und wie Sie es beschreiben, Kontinuität in der politischen Verantwortung durch lange Legislaturperioden. Da kann man sehr viel mehr umsetzen, als wenn man sich im täglichen Alltagsstreit befindet, allein, das lässt sich nicht übertragen, denn die kommunale Demokratie lebt eben gerade davon, dass man nicht im parteipolitischen Streit versinkt, sondern sich sehr sachorientiert um Lösungen bemüht. Deswegen glaube ich, dass der Satz, dass alle, die in der großen Politik sind, erst mal kommunalpolitische Erfahrungen sammeln sollten, etwas für sich hat. Aber es ist auch eine Illusion zu glauben, man könne bundespolitische Diskussionen ohne Parteienstreit führen. Das gelingt einfach nicht, weil die Welt so komplex ist, und man muss sie in vier, fünf Richtungen sortieren und gegeneinanderstellen, damit die Menschen überhaupt eine Chance haben zu entscheiden – das ist in der Kommune anders.

STANDARD: Hat es Sie nie gereizt, in die "große Politik" zu wechseln?

Palmer: Bisher nicht, Tübingen ist eine wunderschöne Stadt, und ich habe immer noch viele Ideen und viel vor, und ich bin mit meinen 44 auch noch nicht in dem Alter, wo man unbedingt was Neues anfangen muss.

STANDARD: Die Sorge, dass Sie innerparteilich kaltgestellt werden, haben Sie nicht?

Palmer: Ich habe das Privileg der direkten Volkswahl, hinter mir stehen bei der letzten Wahl 62 Prozent der Menschen in meiner Stadt, und das verschafft mir große Freiheit und Eigenständigkeit auch mit politischen Äußerungen. Ich muss mich nicht vor Parteigremien rechtfertigen, sondern vor meinem Gewissen und vor der Stadtbevölkerung, und da habe ich bisher große Unterstützung.

STANDARD: Als Abgeordnete landen Querdenker allerdings oftmals rasch auf einem unwählbaren Platz.

Palmer: Die Eigenschaft haben aber leider fast alle Parteien, Querdenker sind in wenigen politischen Parteien willkommen. Das hat eine rationale Erklärung, man will ja gemeinschaftlich was erreichen und will nicht dauernd in der Öffentlichkeit mit Mahnungen und Kritik von den eigenen Leuten konfrontiert sein. Trotzdem brauchen Parteien so was, sonst werden sie zu völlig langweiligen Konsensveranstaltungen. Es kommt auf das Maß an, ich hoffe, ich treffe das richtige.

STANDARD: Grundsätzlich ist Widerspruch ja etwas, das man sich bei einer grünen Partei erwarten würde.

Palmer: Auf jeden Fall, die Grünen müssen es sich leisten, dass sie sich auch mit Querdenkern schmücken. (Michael Vosatka, 11.1.2017)