Im Gegensatz zu Österreich gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn. Dort ist die Kollektivvertragsdurchdringung allerdings wesentlich geringer. In Österreich gibt es in rund 95 Prozent aller Branchen einen KV.

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Wien – Im Arbeitsmarktbereich gehen die Überlegungen von Kanzler Christian Kern teilweise deutlich über bisherige SPÖ-Positionen hinaus. Beim Thema Mindestlohn sorgten die Vorhaben zudem für etwas Verwirrung, weil die Aussagen in Kerns Rede weitgehender waren als die Mindestlohnpassage in der 146-seitigen schriftlichen Fassung seines "Plans A".

Wie sehen nun die Forderungen aus? In einem ersten Schritt seien die Sozialpartner gefordert, durch einen Generalkollektivvertrag 1.500 Euro Mindestlohn in allen Branchen zu verwirklichen, heißt es im Kanzlerbüro. Kommt es nicht dazu, soll eine gesetzliche Lösung geschaffen werden, die es dem Sozialminister ermöglichen würde, per Verordnung einen Mindestlohn von 1.500 Euro festzulegen.

ÖGB: "KV-System ist gesetzlichem Mindestlohn überlegen"

Dieser Wunsch geht allerdings nicht nur der Wirtschaftskammer zu weit, sondern auch der Gewerkschaft. "Wir sind der Meinung, dass das Kollektivvertragssystem einem gesetzlichen Mindestlohn überlegen ist", sagt der Leitende ÖGB-Sekretär Bernhard Achitz im STANDARD-Gespräch. Durch die Kollektivverträge könne man besser auf Branchenspezifika eingehen.

Im Gegensatz zu Kern strebt man in einem ersten Schritt auch keinen Generalkollektivvertrag an, sondern eine Generalvereinbarung. Das hat zuletzt auch ÖGB-Präsident Erich Foglar betont, der diese Vereinbarung aber gleich für 1.700 Euro schließen will. Was der Unterschied wäre: Die Generalvereinbarung ist unverbindlicher, legt also nur einen Fahrplan fest, bis wann diese Marke erreicht werden soll. Sollten dann noch Branchen offen sein, sei aber ein Generalkollektivvertrag denkbar, sagt Achitz.

Wirtschaft fordert Zeit

Über einen Stufenplan kann sich auch die Wirtschaftskammer Gespräche vorstellen. "Wenn wir uns zusammensetzen, werden wir eine Lösung finden", ist der Leiter der Sozialpolitik, Martin Gleitsmann, überzeugt. Man müsse den betroffenen Branchen aber Zeit für die Anpassung geben: "Denn sonst erreicht man das Gegenteil von dem, was man erreichen will – nämlich den Verlust von Arbeitsplätzen."

Dort, wo es noch Lücken im KV-System gibt, kann sich ÖGB-Vertreter Achitz aber durchaus gesetzliche Maßnahmen vorstellen. Gar keine Kollektivverträge gibt es beispielsweise bei einigen freien Berufen, etwa für Mitarbeiter von Rechtsanwaltskanzleien. Im Streitfall kann für solche Fälle beantragt werden, dass ein verwandter Kollektivvertrag angewendet wird. Darüber entscheidet dann das im Sozialministerium angesiedelte Bundeseinigungsamt. Hier könne man die Gesetze aber noch durchaus präzisieren, sagt Achitz.

Lohnschutzklauseln derzeit nicht möglich

Noch schwieriger umzusetzen wird die Kern-Forderung sein, in Branchen mit hoher Arbeitslosigkeit das Instrument der Arbeitsmarktprüfung einzuführen. Nur wenn das AMS keinen Inländer für eine offene Stelle findet, soll also ein Zuwanderer aus einem anderen EU-Land zum Zug kommen. Derzeit wäre eine solche "Lohnschutzklausel" (Zitat Kern) jedenfalls nicht möglich, sie wäre ein klarer Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, eines der Grundprinzipien der EU.

Wie könnte man davon abgehen? Zumindest müsste die Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung geändert werden, sagt der Europarechtler Walter Obwexer. Vorher bräuchte es aber einen Vorschlag der EU-Kommission sowie eine qualifizierte Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten (55 Prozent der Mitglieder, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) sowie einen Beschluss des Europaparlaments.

EuGH könnte Regelung kippen

Das alles ist schon äußerst unwahrscheinlich. Obwexer geht aber davon aus, dass eine Lohnschutzklausel vom Europäischen Gerichtshof gekippt würde. Auf der sicheren Seite wäre man daher nur, wenn man die EU-Verträge ändern würde, wofür es Beschlüsse von allen 28 EU-Mitgliedern bräuchte – also auch von den osteuropäischen, die massiv von der Arbeitsmarktöffnung profitiert haben. Die EU-Kommission wollte sich am Donnerstag auf Anfrage nicht äußern.

Die Wirtschaftskammer lehnt Einschränkungen bei der Freizügigkeit jedenfalls klar ab, wie Gleitsmann sagt. "Das wäre problematisch, es wäre eine extreme Einschränkung für die Betriebe." Auf dem heimischen Jobmarkt finde man häufig nicht die geeigneten Kandidaten, eine zusätzliche AMS-Prüfung würde die Prozesse in den Betrieben "nur erschweren".

Amon konziliant

ÖVP-Generalsekretär Werner Amon zeigte sich hingegen konzilianter. Er begrüße die SPÖ-Überlegungen, es brauche aber Regelungen, die nicht EU-Recht widersprechen. Zudem müsse der Gedanke der Niederlassungsfreiheit aufrecht bleiben.

Ebenfalls für Kritik der Wirtschaft sorgt der SPÖ-Wunsch nach einem Rechtsanspruch auf eine Wechselmöglichkeit zwischen Voll- und Teilzeit. Für Gleitsmann kommt das nicht infrage. Es habe sich in Österreich bewährt, dass derartige Dinge im Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und -nehmern vereinbart werden. Froh ist er hingegen, dass die SPÖ Bereitschaft zur Einführung des Zwölf-Stunden-Arbeitstags in Betrieben mit Gleitzeit signalisiert hat, wenn die Mitarbeiter im Gegenzug längere Freizeitblöcke konsumieren können. (Günther Oswald, 12.1.2017)