Solche Anblicke sind in Österreichs Ortskernen noch selten. Raumforscher raten aber schon lange zu aktiv begleiteten Schrumpfungen.

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"Es werden in Österreich wahrscheinlich erst einmal Ortsteile betroffen sein. Die Diskussion ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass man ganze Gemeinden auflassen würde", sagt Raumforscherin Gerlind Weber.

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Wenn man Bürgermeister Bernd Huber nach der Einwohnerzahl seiner Gemeinde Pfafflar in Tirol fragt, sagt er 110. Er rundet nicht auf hundert ab, denn jeder Kopf zählt. Vor zweieinhalb Jahren musste die Volksschule schließen. Das sei auch deshalb schade gewesen, weil "wir wieder einen Arbeitsplatz weniger in der Gemeinde haben", sagt Huber.

So muss ein Bürgermeister rechnen, dessen Ort schrumpft. Pfafflar liegt auf etwa 1300 Meter Höhe, verstreut auf die drei Ortsteile Bschlabs, Boden und Pfafflar, in einem Seitental des Lechtals. Huber, 35 Jahre alt, Gründer eines IT-Unternehmens, hat schon viel getan, um das Dorf attraktiver zu machen. Wasserleitungen wurden erneuert, Häuser saniert, als eine seiner ersten Amtshandlungen im Jahr 2005 versorgte er die Menschen mit WLAN. Weil der Ort zu wenige Kinder hat, hofft Huber auf Zuzug. Er weiß, dass seine Möglichkeiten begrenzt sind. "Wir können keine große Wohnanlage bauen", dafür fehle das Geld. Die Perspektive von Pfafflar sieht er "sehr sorgenvoll, aber nicht ganz hoffnungslos".

Ungleiches Wachstum

Österreichs Bevölkerung wird zwar weiter wachsen – doch das Wachstum ist sehr ungleich verteilt. Etwa 9,4 Millionen Einwohner prognostiziert die Statistik Austria für das Österreich des Jahres 2030 (2016: 8,7 Millionen). Blickt man auf die Prognose-Landkarten der Österreichischen Raumordnungskonferenz, werden einige Regionen allerdings massiv Einwohner verlieren. In der Obersteiermark, in weiten Teilen Kärntens und im nördlichen Waldviertel zum Beispiel drohen Landstriche zu verwaisen. Drastische Beispiele: Im steirischen Bezirk Murau wird ein Minus von 11,3 Prozent bis 2030 erwartet, im Kärntner Hermagor minus 9,5 Prozent, im Bezirk Zwettl minus 6,2 Prozent.

Raumplaner und Ökonomen fordern darum schon lange Antworten der Politik ein. "Die Schrumpfung mancher Orte findet statt, aber unstrukturiert und ungeplant", beklagt etwa Daniel Müller-Jentsch, Volkswirt im wirtschaftsliberalen Züricher Thinktank Avenir Suisse, im Standard -Gespräch. Visionen und Strategien des Schrumpfens seien gefragt statt Förderungen nach dem Gießkannenprinzip, sagt Müller-Jentsch. "Man muss eine Vision entwickeln: Was für ein Dorfbild wollen wir in geschrumpfter Form in zwanzig Jahren haben? Reißen wir an den Rändern ab, bringen wir mehr Luft und Licht in den Ortskern und schaffen dadurch neue Freiräume?"

Politische Niederlage

Eine Kultur des Schrumpfens ist Österreichs Gemeindepolitikern und Landeshauptleuten bisher aber sehr fremd geblieben. Einzelne Gebäude oder gar Straßenzüge abzureißen würde wohl als politische Niederlage gelten.

Müller-Jentsch beschrieb mit seinem Co-Autor Lukas Rühli in einem "Kantonsmonitoring" bereits 2010, wie ein Rückzug gehen könnte. Im Kanton Graubünden hatte das Amt für Wirtschaft und Tourismus damals in einem Bericht mit dem Titel "Strategien zum Umgang mit potenzialarmen Räumen" 22 Gemeinden identifiziert, für die ein "koordinierter Rückzug" geprüft werde. Heute sagt Müller-Jentsch: "Da ist nicht viel daraus geworden. Das ist ein Tabu, und darum trauen die Politiker sich da nicht heran."

Eine Ortschaft zusperren

Er sei sich bewusst, dass das geplante Schrumpfen von Orten "hochsensibel" ist. Darum plädiert Müller-Jentsch dafür, das Potenzial von Orten zu objektivieren und Indikatoren zu schaffen. Es gehe nicht um blinden Rückbau und Abriss, sondern um "maßgeschneiderte" Strategien für schrumpfende Siedlungen. Dennoch vertritt er die Meinung, eine weitsichtige Raumplanung müsse sich auch dem Aufgeben von Dörfern stellen, salopp gesagt: deren Zusperren. "Das klingt jetzt schonungslos, aber bei einem unattraktiven Dorf in unattraktiver Lage kann es besser sein, dieses dichtzumachen", sagt Müller-Jentsch.

Eine ähnliche Position vertritt in Österreich Gerlind Weber, ehemalige Leiterin des Instituts für Raumplanung an der Wiener Boku. Sie kennt die politische Brisanz des Dorfschrumpfens. Schon oft habe sie versucht, ein Forschungsprojekt zu finanzieren, bisher ohne Erfolg. "Die Politik schreckt davor zurück, diese Frage aufzugreifen."

Organisierter Rückzug

Weber kennt aus vielen Podiumsdiskussionen die politische Gemengelage: Die Verkleinerung von Gemeinden gilt als geradezu unstatthaft. Dennoch rückt sie nicht von der Forderung ab, Schrumpfungen nicht mit untauglichen Mitteln zu bekämpfen- was auch volkswirtschaftlich unvernünftig sei -, sondern sie aktiv zu gestalten. "Es werden in Österreich wahrscheinlich erst einmal Ortsteile betroffen sein. Die Diskussion ist nicht so weit fortgeschritten, dass man ganze Gemeinden auflassen würde."

Weber sieht dafür grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Die eine wäre ein organisierter Rückzug. Dabei sieht sie auch rechtliche Hürden. "Es geht um volkswirtschaftliche, aber auch um private Vermögenswerte. Wer darf überhaupt aussprechen, dass jemand sein Haus dem Abriss preisgeben soll?" Eine Alternative wäre das, was Weber "passive Sanierung" nennt. Bestimmte Dienste, zum Beispiel die Schneeräumung, würde die öffentliche Hand nicht mehr leisten. Das Leben in solchen Dörfern würde damit unwirtlich bis unmöglich werden.

Natürlich, sagt Weber, seien die Belebung von Ortszentren und die Beseitigung von Leerstand die erste Wahl, bloß gebe es nicht für jede Klein- und Kleinstgemeinde eine hoffnungsvolle Perspektive.

Kulturgut Kleindorf

Bernd Huber, der Bürgermeister von Pfafflar, hofft für seine Gemeinde einerseits auf Zuzug, andererseits auf den Tourismus. Im Sommer würden oft Motorradfahrer, meist Deutsche und Belgier, im Ort übernachten. Er selbst beginne gerade, beruflich leerstehende Bauernhäuser zu vermieten.

Aber kann er sich vorstellen, sollte die Gemeinde weiter schrumpfen, mit seinen Bürgern den Rückzug aus Bschlabs, Boden und Pfafflar anzutreten? Huber macht eine Pause, bevor er antwortet. "Eigentlich will ich's nicht", sagt er. "Kleindörfer sind ein Kulturgut. Wenn es sie nicht mehr gibt, verlieren auch die anderen Täler etwas. Wir sind doch mehr oder weniger der Freizeitraum der Städte."

Auch ein alternatives Wohnangebot für seine Bürger durch Bezirk oder Land Tirol würde daran wohl nichts ändern, glaubt Huber. "Wenn das gezielt gemacht werden würde, dann würde das nicht funktionieren. Weil das die Heimat ist." (Lukas Kapeller, 4.2.2017)