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Litchis: Für mangelernährte Kinder können die süßen Früchte zu einer tödlichen Gefahr werden, haben Wissenschafter herausgefunden.

Foto: APA/EPA/LUONG THAI LINH

Muzzaffarpur/Atlanta – Seit 1995 wird die indische Stadt Muzzaffarpur von einer mysteriösen "Seuche" heimgesucht. Jedes Jahr das gleiche unerklärliche Phänomen: Zwischen Mitte Mai und Mitte Juli – wenn die Hitze am größten ist – leiden viele Kinder an Krämpfen und Sinnesstörungen. Einige werden bewusstlos, manchen sterben.

Häufig erkranken sie in der Nacht. Sie gehen vermeintlich gesund zu Bett, nur Stunden später müssen die Eltern um das Leben ihrer Kleinen bangen. Im Jahr 2014 wurden in diesem Zeitraum insgesamt 390 Kinder in die beiden Spitäler der Stadt eingeliefert. Für knapp ein Drittel der kleinen Patienten kam jede Hilfe zu spät. Die traurige Bilanz: 122 Todesopfer.

Mit Beginn des Monsuns im Juli ist der Spuk jedes Jahr wieder vorbei. Ärzte und Forscher standen rund 20 Jahre vor einem Rätsel. Einige Wissenschafter vermuteten, dass das Massensterben mit dem Wetter im Zusammenhang steht. Die These, die Kinder seien an einem Hitzekollaps gestorben, lag nahe. Andere Forscher führten die mysteriösen Todesfälle auf den massiven Einsatz von Pestiziden zurück, die in dieser Region großflächig auf den Plantagen versprüht werden.

Mangelernährung und unreife Früchte

US-amerikanischen und indischen Forschern ist es nun gelungen, den tatsächlichen Grund für das rätselhafte Massensterben herauszufinden: Die süßen Früchte des Litschibaums können zu einer toxische Unterzuckerung führen. Grundsätzlich ist der Verzehr des weißen Fruchtfleisches unbedenklich. Bluttests zeigten allerdings, dass alle behandelten Kinder einen ungewöhnlich niedrigen Blutzuckerwert von weniger als 70 Milligramm pro Deziliter hatten.

Nachdem die Forscher andere Krankheitserreger oder eine Vergiftung mit Pestiziden ausschließen konnten, untersuchten sie die Ernährung der Kinder. Auffällig war, dass die betroffenen Patienten zumeist unterernährt waren und ohne Abendessen zu Bett gingen. Die Kinder hatten untertags aber große Mengen Litschis verzehrt.

Die Früchte werden in der Region seit einigen Jahren angebaut und reifen genau in den Monaten zwischen Mai und Juli. Vor allem die unreifen Früchte enthalten wie auch andere Vertreter der Seifenbaumgewächse viel Hypoglycin, das im Körper zu Methylencyclopropylacetyl-CoA (MCPA-CoA) verstoffwechselt wird, und den Körper daran hindert, Glukose zu bilden. Die Folge können Vergiftungssymptome wie Unterzuckerung, Erschöpfung und Bewusstlosigkeit sein.

Zufällige Entdeckung

Ein weiteres Detail der Studie: Bei den unterernährten Kindern, die Litschis gegessen und danach kein Abendessen zu sich genommen hatten, war das Risiko für eine Hypoglykämie um das Achtfache höher als in der Kontrollgruppe ohne Früchtekonsum. Das Verzehren von Litschis mit anschließendem Abendessen erhöhte das Risiko für Unterzuckerung um etwa das Vierfache.

Auf die richtige Fährte kamen die Forscher durch einen Zufall: Während einer Telefonkonferenz erwähnte ein Forschungskollege eine ähnliche Serie von Erkrankungsfällen, die auf der Karibikinsel Jamaika beobachtet wurde. Die Krankheit, die unter dem Namen "Jamaican vomitting sickness" bekannt ist, wird durch den Verzehr der Akee-Frucht hervorgerufen. Die Pflanze stammt ebenfalls aus der Familie der Seifenbaumgewächse und weist auch einen hohen Anteil an Hypoglycin auf. (gueb, 15.2.2017)