Wien – In der Behandlung angeborener neuromuskulärer Krankheiten dürfte sich eine neue Ära abzeichnen. Erstmals gibt es Arzneimittel, die direkt in die Krankheitsabläufe eingreifen. Die Therapieerfolge können beträchtlich sein, sagte jetzt der Wiener Neuropädiater Günther Bernert im Gespräch mit der APA. Optimismus mache sich auf diesem Gebiet breit.

"Insgesamt kennen wir mehr als 200 neuromuskuläre Erkrankungen. Es handelt sich um angeborene Erkrankungen, bei denen zum Beispiel die Muskelfasern kaputt gehen, der Energiestoffwechsel geschädigt ist oder auch die motorischen Nervenimpulse nicht in die Muskelzellen kommen und diese verkümmern", so Bernert, Präsident der Österreichischen Muskelforschung und Chef der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Sozialmedizinischen Zentrum Süd in Wien.

Schlechte Prognose

An sich gehören diese Krankheiten zu den sogenannten seltenen Erkrankungen. Duchenne Muskeldystrophie (DMD) betrifft einen von 3.500 neugeborenen Buben. Bei der Spinalen Muskelatrophie sind es fünf bis 17 pro 100.000 Lebendgeborenen beiderlei Geschlechts.

Die Prognosen für Betroffene waren lange Zeit sehr schlecht. "Ehemals musste man davon ausgehen, dass Patienten mit DMD etwa im Alter zwischen 15 und 20 Jahren versterben", ergänzte der Neuropädiater. Die Ursache ist ein fehlerhaftes Gen für das Eiweiß Dystrophin in der Membran der Muskelzellen. Diese gehen langsam zugrunde. Der Tod wird zumeist durch Atemversagen verursacht.

Doch während es gelang, die verschiedenen genetischen Ursachen nicht nur von DMD, sondern auch vieler anderer Muskelerkrankungen zu entschlüsseln, wurden durchaus konventionelle Fortschritt erzielt. So gelang es trotz zunehmenden Verständnisses für die genetischen Mechanismen dieser Erkrankungen lange Zeit nicht, dieses therapeutisch zu nützen, während mit konventionellen Therapien relevante Erfolge erzielt werden konnten. "Es gelang durch hauptsächlich vier Maßnahmen, das Überleben der Betroffenen mit DMD bis ins Alter von 30 bis 40 Jahren zu gewährleisten. Das waren die Einführung einer Therapie mit Cortison, die Behandlung der Atemstörung während des Schlafes über Maskenbeatmung, die orthopädisch-chirurgische Stabilisierung der im Rahmen der Erkrankung auftretenden Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose; Anm.) und die Therapie auftretender Herzmuskelschädigung (Kardiomyopathie; Anm.)", erklärte Bernert.

Besser wirksam als Placebo

Cortison scheint die bei der Krankheit auch auftretende Autoimmunantwort gegen die geschädigten Muskelzellen zu bremsen. Es wird individuell dosiert und unter entsprechender Begleittherapie zu Minimierung der Nebenwirkungen eingenommen. In der Therapie der Herzmuskelschädigung finden bekannte Arzneimittelklassen wie Beta-Blocker und/oder ACE-Hemmer Verwendung.

Doch in den vergangenen Jahren wurde für elf bis 13 Prozent der DMD-Patienten ein offenbar erheblicher Fortschritt erzielt. Der Neuropädiater stellte das Wirkprinzip so dar: "Diese Patienten weisen im Dystrophin-Gen eine Nonsense-Mutation auf, die zu Abbruch des Ablesens der Geninformation und zur Produktion eines nicht funktionsfähigen Proteins führt. Mit dem Medikament Ataluren wird dieses verfrühte Stopp-Signal 'überbrückt'."

Das Arzneimittel, das dreimal pro Tag geschluckt wird, ist derzeit für noch gehfähige Patienten über fünf Jahre vorgesehen. In einer klinischen Studie über den Zeitraum von einem Jahr zeigte sich eine Verschlechterung unter einem Scheinmedikament (Placebo) bei 44 Prozent der Probanden. In der Gruppe der Behandelten war das bei 26 Prozent der Fall. Die Nebenwirkungen waren in beiden Probandengruppen gleich, also auf Placebo-Niveau." Es gibt daher auch gute Gründe, die dafür sprechen, das Medikament eventuell früher anzuwenden.

Teures Medikament

Kritisch sind die Kosten. Die Aufwendungen für das Medikament betragen pro Jahr 300.000 bis 350.000 Euro. Bisher haben die Krankenkassen jeden Antrag auf Erstattung genehmigt. Derzeit dürften für diese Therapie in Österreich sechs bis sieben Betroffene infrage kommen. Unabhängig von welcher neuromuskulären Erkrankung Patienten betroffen sind, dürfte auch ein Antioxidans speziell gegen die Abnahme der Lungenfunktion einen Effekt aufweisen.

Behandlung der Spinalen Muskeldystrophie

Außerdem zeichnet sich auch bei der Spinalen Muskeldystrophie (SMA) eine deutliche Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten ab. Bei dieser Erkrankung wird durch die fehlerhafte Bildung des SMN-Proteins in Nervenzellen die Übertragung motorischer Impulse in die Muskelzellen verhindert. Dadurch verkümmert die Muskulatur.

Bei der schwersten Verlaufsform (SMA1) starben betroffene Kinder bisher binnen ein bis zwei Jahren nach der Geburt an Atemversagen. Für diese Erkrankung könnte ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (Nusinersen), das zunächst alle zwei Wochen, später dann zweimal im Jahr, ins Rückenmark injiziert wird, einen Fortschritt bedeuten. "Es gibt Kinder, die das freie Sitzen erlernten oder auch auf die Knie kamen", sagte der Wiener Spezialist Günther Bernert.

Erweiterung des Screeningprogramms

Eine Studie zum Beleg der Wirksamkeit wurde wegen der aufgetretenen großen Unterschiede zwischen Placebo- und Verumgruppe abgebrochen, weil man keinem der Kinder die Behandlung mehr begründet versagen durfte. Das Arzneimittel, das durch die bessere genetische Nützung eines eng verwandten Gens wirkt, ist noch nicht von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zugelassen. Es wird aber über ein spezielles Programm (Early Access Program – EAP) demnächst erhältlich sein.

Studien haben gezeigt, dass bei Einsatz dieses Medikamentes noch vor Auftreten der ersten Symptome eine optimale Wirkung erzielt werden könnte. Um diese Chance zu nützen, müsste eine Aufnahme der SMA in das genetische Screeningprogramm für Neugeborene stattfinden. Dazu wäre es aber notwendig, dass in Österreich auch das Frühgeborenen-Screening der Neugeborenen auf die Muskeldystrophien ausgeweitet wird.

"Wir bemerken, dass betroffene Kinder, wenn sie optimal mit den nötigen Therapien und Hilfsmitteln versorgt sind, wieder den Schulbesuch oder junge Erwachsene eine Berufsausbildung anstreben. Das zeigt doch, dass sich Optimismus bei den Betroffenen breitmacht", sagte Bernert. (APA, 23.2.2017)