Geschichten aus dem gebirgigen Montana: Lily Gladstone als Ranch-Aushilfskraft in "Certain Women".

Foto: Park Circus

Bild nicht mehr verfügbar.

Präzise Erzählerin: US-Filmemacherin Kelly Reichardt.

Foto: AP / Danny Moloshok

Wien – Schadenersatz, das verlangt Fuller (Jared Harris, bekannt aus Mad Men) von seinem früheren Arbeitgeber. Die Antwort seiner Anwältin Laura (Laura Dern) lautet seit acht Monaten gleich: Es sei zu spät dafür, er hätte eine frühere Abmachung nicht akzeptieren dürfen. Fullers Hartnäckigkeit ist allerdings beachtlich, Wut und Selbstmitleid vermengen sich zum gefährlichen Cocktail. Ausbaden muss es Laura. In einer aufgeladenen Autoszene versucht sie ihrem manischen Klienten die Grenzen aufzuzeigen, doch der Umstand, dass sie eine Frau ist, hilft ihr in diesem Moment nicht unbedingt weiter.

Die erste Episode aus Kelly Reichardts Film Certain Women ist ein schöner Beleg für die raren Qualitäten der US-Regisseurin. Aus dem in wenigen, exakten Zügen entworfenen Porträt einer professionellen Frau und den Mühen ihres Arbeitsalltags entsteht ein Echoraum für größere gesellschaftliche Entwicklungen.

Trailer (mit deutschen Untertiteln).
kinofilme

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich politischer bin als irgendjemand anderer", sagt Reichardt dazu zurückhaltend im Standard-Gespräch. "Ich versuche meine Filme zwar immer gegenwärtig zu machen, aber da geht es meist um Nuancen. Erst als der Film herauskam, erschien die Figur von Jared Harris plötzlich wie der Prototyp des weißen Mannes, der beklagt, dass ihm keine Gerechtigkeit widerfährt." Die Art, wie er außer Kontrolle gerät – niemand hätte vorhersehen können, wie sehr das nun dem Zeitgeist eines Landes entspricht, in dem Affekte die Politik mitleiten.

Western der Gegenwart

Die Filme der 1964 geborenen Amerikanerin registrieren freilich schon länger wie ein Seismograf die kleineren Erschütterungen und Verschiebungen im Land. Wendy und Lucy (2008) gilt als eine jener Arbeiten, die den schwindenden sozialen Zusammenhalt in der Bush-Ära beschrieben haben. Hat Reichardt bisher mit ihrem Stammautor Jon Raymond zusammengearbeitet – er war durchs Schreiben an einem neuen Roman verhindert -, gaben diesmal Shortstorys von Maile Meloy die Grundzüge der Handlung vor; und damit ein neuer US-Bundesstaat, das nordwestliche Montana.

Den Weg, bis aus erzählerischen Bausteinen etwas Harmonisches entsteht, beschreibt Reichardt als Trial-and-Error-Prinzip. Wichtig sei nicht zuletzt die Landschaft selbst – "Ich mache aus jedem Ausflug eine Schauplatzsuche, eine dumme Art zu leben!" -, was man in Certain Women schon an der ersten Einstellung sieht, in der ein Zug durchs Bild fährt, wie in einem Western, am Horizont die schneebedeckten Berge.

Reichardt, die mit Meek's Cutoff schon einen Western gedreht hat, betrachtet Certain Women als eine zeitgenössische Spielart des Genres: "Vor allem in dem Teil mit Michelle Williams geht es darum, etwas einzunehmen, sich etwas zu holen, während man nicht wirklich darüber nachdenkt, wem man es wegnimmt. Es geht Michelles Figur Gina nur darum, ein perfektes materielles Heim zu bauen."

Trailer (englisch).
FilmTrailerZone

Williams, die selbst aus Montana stammt, ist bereits eine Art Muse der Filmemacherin. Es ist ihre dritte Zusammenarbeit, und jedes Mal hat man den Eindruck, dass sie mit noch größerer Reduktion vorgehen. Gina spielt sie als unnahbare, etwas brüske Frau, die aus dem eigenen Familienverbund ausgegrenzt wird und leidet. "Wir haben immer sehr wenig Zeit, bevor wir arbeiten", sagt Reichardt, was angesichts der Intensität erstaunt. "Wir haben einen Tag in dem Zelt am Set mit James Le Gros (Darsteller des Ehemanns, Anm.) verbracht, damit sich die beiden kennenlernen. Sobald sie dann wirklich aufeinander reagieren, nimmt das Ganze Eigenleben an – inklusive allem, was in dem geteilten Raum passiert. Michelle ist eine sehr intuitive Schauspielerin."

Es gilt für alle Filme Kelly Reichardts, dass dem Ungesagten eine wesentliche Rolle zukommt, präzise arbeitet sie Momente heraus, in denen ein Ausweichmanöver, eine Pause, nur ein Blick den Figuren widersprüchlichere Konturen verleiht. "Die meisten Menschen gehen im richtigen Leben ja auch nicht herum und sagen, was sie denken oder worauf sie hinauswollen – das passiert nur im Kino", behauptet Reichardt. Dialoge seien für sie nur eines der Mittel, um eine Szene zu gestalten: "Die Dinge, die nicht gesagt werden, haben für mich das gleiche Gewicht."

Hoffnungen als Projektionen

Das lässt sich auch an der letzten der drei nur äußerst lose verbundenen Episoden von Certain Women studieren, die von einer Native American und Rancharbeiterin (Lily Gladstone) erzählt, die zu einer jungen Rechtspraktikantin (Kristen Stewart) Bande knüpft – eine zarte, von Hoffnungen und möglichen Projektionen gelenkte Geschichte.

Wie findet man heraus, ob eine solch intime Paarung zwischen einem Superstar wie Stewart und einer Newcomerin funktioniert? "Das ist immer ein Experiment: Eigentlich kann man sich nicht vorstellen, dass sich die Dinge am Ende zum Besseren wenden, weil man sich die Schauspieler nur begrenzt als Figuren vorstellen kann", sagt Reichardt.

Mit Stewart habe sie vor dem Dreh nicht einmal reden können – ein Los von Independent-Produktionen wie dieser. "Ich fragte mich, ob sie wirklich am Set auftauchen würde, und plötzlich war sie da. Es ist ja nicht einmal die Geschichte ihrer Figur, sondern jene von Lily. Doch Kristen war sehr großzügig, wollte es nie zu ihrer Sache machen. Es war eindrucksvoll, wie viel sie zu geben, aber auch wie sehr sie sich zurückzuhalten vermochte."(Dominik Kamalzadeh, 4.3.2017)