Wir Eltern sind umgeben von einer Industrie, die uns in Vorträgen, in Magazinen, in Bestsellern und in Fernsehen und Radio permanent erklärt, was gut für uns und unsere Kinder ist. Wir werden informiert, wenn ein potenziell gesundheitsschädliches Molekül im Teddybär gefunden wird, und entsorgen anschließend alle Stofftiere. Wir sind Ernährungsapostel und wissen dank Doktor Google besser als alle Kinderärzte dieser Welt über die Gesundheit unserer Kinder Bescheid.

Überall lauert Gefahr

Hinter jeder Ecke, so scheint es uns manchmal, wenn wir die Nachrichten lesen, lauern Kindsmörder, die unsere kleinen Töchter und Söhne vor den Schulen ansprechen und weglocken wollen. Auch das, was unsere Kleinen jeden Tag zu sich nehmen oder womit sie spielen, ist potenziell arsen- oder sonst irgendwie verseucht. Wir beobachten den Entwicklungsfortschritt unserer Kinder und vergleichen ihn mit den Tabellen in unseren Erziehungsratgebern. Und denken dann darüber nach, ob Logopädie, Zahnspangen und Frühförderung notwendig sind.

Ohne Lego-Baukurs kein Topjob?

Verrückt? Ja, schon irgendwie. Und trotzdem: Irgendwie haben wir Angst, etwas zu verpassen, was für unsere Kinder wichtig ist. Denn wir Eltern, wir sind heute nicht nur für das gesunde Großwerden und das liebevolle Umsorgen unserer Kinder verantwortlich, sondern auch dafür, dass wir die Kleinen optimal, wenn es geht optimalst, auf das Leben vorbereiten. Genauer: auf das Berufsleben.

Wir diskutieren auf dem Spielplatz, welcher Schwimm-, Lego-Bau-, Sprach- und Kindertanzkurs wann zu besuchen ist. Wir melden unsere Kinder knapp nach ihrer Zeugung in den beliebtesten Kindergärten der Stadt an und haben spätestens an ihrem vierten Geburtstag den Platz in der Elitevolksschule in der Tasche. Wenn wir nicht gut aufpassen, verpasst unser Kind schon im Kindergarten den Anschluss an die Altersgruppe und hat nie eine Chance auf einen guten Job mit tollem Einkommen. Glauben wir.

Mein Kind, der Installateur

Die Fördermaßnahmen und idealen Schulen, das richtige Essen, das perfekte Spielzeug, die richtigen Freunde, all das dient dazu, dass der kleine Bub später einmal was Richtiges, Großes, Tolles aus seinem Leben machen kann. Vielleicht würde er aber gern Installateur sein. Wer von den Englisch-Lernkurs-im-Kindergarten-supernotwendig-Eltern hält denn das aus, dass der superoptimal geförderte Sohn Installateur wird? Oder sich mit 16 tätowieren lässt und mit der Freundin nach Amsterdam durchbrennt?

Loslassen fällt uns schwer

Dabei ist es doch so, dass es uns als Müttern und Vätern in einer solchen Welt viel schwerer fällt loszulassen. Loslassen müssen wir aber. Das sagen nicht nur die Erziehungsexperten, sondern das sagt uns der Hausverstand. Und die eigene Erfahrung – im besten Fall. Wie aber geht dieses Loslassen? Es ist einfach am Kindergartentor und an der Volksschultüre. Wo die Direktorinnen vorgeben, dass die Eltern nicht mit in die Garderobe dürfen. Sonst hätten wir dort nämlich haufenweise Gluckenmütter sitzen, die die Jausenbox nachbringen.

Loslassen später wird schon schwieriger. Man wundert sich plötzlich, warum der Sohn jetzt einen Bart hat. Und warum er jetzt immer alleine überall hingeht, wo ja doch ... ähm, Moment. Er ist 16. Wieso sollte er das nicht tun? Der Vergleich mit der eigenen Jugend ist schwierig. Die war scheinbar unbeschwerter. Weniger gefährlich. Weniger hysterisch. Heute aber, da ist die Welt irgendwie "schwerer" geworden. Oder sind es einfach nur die Eltern, die schwieriger und schwerer sind – zu ertragen für ihre Kinder nämlich?

Wieder schwerer wird es dann, wenn das Kind erwachsen ist. Und eine eigene Wohnung sucht und eine eigene Studienwahl trifft, und die mag man vielleicht nicht. Und das Kind durchlebt erste wirkliche Krisen. Ein erstes Mal eine sehr schmerzhafte Trennung. Ein erstes Mal Freundeskreis zerstört. Das tut sehr weh. Dann will man das Kind halten. Weiß aber, dass die eigenen guten Ratschläge nichts bringen, weil das Kind nämlich seine eigenen Erfahrungen machen muss. Auch wenn man es in seinem Zimmer weinen hört und natürlich zu ihm gehen, ihm helfen möchte, das Kind das aber gerade nicht will.

Dinge nicht zurechtrücken, einfach nur da sein

Als Mutter und als Vater kann man die Dinge nicht zurechtrücken, nicht geradebiegen, weil das Kind das selbst tun muss – für sich alleine und in seinem Tempo. Und genau das zu erkennen ist, glaube ich, das Schwerste am Elternsein. Und vor allem: es im richtigen Moment zu erkennen. Loszulassen und das Kind seinen eigenen Weg gehen zu lassen gilt nämlich genauso für den Siebenjährigen, der sich jetzt alleine zum Fußballtraining aufmacht, wie für die 16-Jährige, der man sagt, dass sie bitte nicht mit diesem fürchterlichen Typen schlafen soll, die aber trotzdem weiter zu ihm geht, wenn seine Eltern gerade nicht daheim sind, und auch für den 20-Jährigen, der das vermeintlich schlimmste Fach der Welt studiert und an den fürchterlichen Liebeskrisen seines jungen Lebens fast zerbricht. Manchmal gibt es gar keinen Zweifel daran, dass das Loslassen jetzt sein muss.

So wie diesen Herbst, als ein Kind zum Auslandszivildienst aufgebrochen ist nach Südafrika. Und seither wird das Loslassen geübt, via Skype. Und nur eine andere Seite der Medaille ist wahrscheinlich auch die Dreijährige, die jetzt keine Windel mehr in der Nacht tragen will, obwohl man dafür um Mitternacht aufstehen und sie auf den Topf setzen muss, weil sonst nämlich jede Nacht das Bett überflutet ist. Jeden Tag stellt sich die Frage: Lasse ich jetzt los? Oder fällt mein Kind noch, wenn ich es tue? Braucht es das Fallen jetzt? Oder ist es doch noch zu früh? Wann also loslassen und wie? (Sanna Weisz, 19.3.2017)