STANDARD: Warum ist Impfen so vielen Menschen unheimlich?

Thießen: Es ist bis heute für den Menschen ein merkwürdiges Gefühl, einen Krankheitserreger eingepflanzt zu bekommen, der einen immun macht. Die Vorstellung, etwas Gefährliches oder Giftiges gespritzt zu bekommen, ist nicht leicht zu verstehen.

Malte Thießen beschäftigt sich mit der Geschichte von Impfungen. Sein Fazit: "Wenn die Bedrohung durch eine Krankheit nicht mehr unmittelbar ist, wird sie nahezu vergessen."
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STANDARD: Allerdings zeigt die Geschichte doch, dass gefährliche Krankheiten wie Pocken durch Impfungen ausgerottet werden konnten. Das müsste doch überzeugen.

Thießen: Als die Sorge vor Infektionskrankheiten wie den Pocken allgegenwärtig war, war natürlich die Angst vor potenziellen Nebenwirkungen von Impfungen viel geringer – die Seuchenangst überwog. Wenn man die Pockentoten und Menschen, die durch Pockennarben entstellt waren, täglich vor Augen hat, wirken Impfungen im Verhältnis weniger bedrohlich. Das macht aber auch die Vermittlung von Impfungen sehr viel schwieriger: Seuchen sind nicht sichtbar. Wenn die Bedrohung nicht mehr unmittelbar ist, wird sie geradezu vergessen.

STANDARD: Wenn Krankheiten aus dem Bewusstsein verschwinden, sinkt die Impfmoral?

Thießen: Das kann man im ganzen 20. Jahrhundert beobachten. Die Polioimpfung stieß bei ihrer Einführung in den 1950er- und 60er-Jahren auf großes Interesse, weil Kinderlähmung sehr präsent war. Zuvor gab es einen starken Anstieg an Erkrankungen, die Impfung wurde empfohlen, und man erreichte eine Durchimpfungsrate von bis zu 98 Prozent: Die Angst um die Kinder war dominant. Durch den Erfolg der Impfung ließ schon nach wenigen Jahren das Interesse an der Impfung nach. Heute gibt es bei weitem nicht mehr so hohe Zustimmungsraten – eben weil Kinderlähmung aufgrund der Impfung nicht mehr sichtbar ist. Das ist das Paradoxe an Impfungen: Ihre Erfolge machen ihre Legitimation schwieriger.

STANDARD: Auch zu Beginn der Polio-Impfung war sie nie verpflichtend. Warum hatte sie dennoch so große Zustimmung?

Thießen: Die Vermittlung von Impfprogrammen sagt viel über Menschenbilder aus. Man hat häufig – etwa bei der Pockenimpfung im 19. Jahrhundert – auf Pflichtprogramme gesetzt, die staatlichen Stellen merkten aber schnell, dass Appelle, Werbung und Aufklärung viel effektiver waren als staatliche Anordnung.

STANDARD: Sollte sich der Staat dann vollkommen zurückziehen?

Thießen: Die Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert zeigen, dass Pflichtimpfungen nie zu einem hundertprozentigen Impfschutz führen. Selbst in Systemen wie dem Nationalsozialismus oder in der DDR haben Impfgegner Wege gefunden, sich der Pflicht zu entziehen, obwohl sie rigide umgesetzt wurde. Damit erfüllt die Impfpflicht nicht ihren Zweck.

STANDARD: Neben einer Impfpflicht werden Maßnahmen diskutiert wie verpflichtende Impfgespräche oder Zahlungen, die an den Mutter-Kind-Pass gekoppelt sind.

Thießen: Mit einer indirekten Pflicht kann man sich ein Eigentor schießen. Wenn Impfungen indirekt verpflichtend sind, ist es zwar praktisch, aber man erreicht nicht die, die man erreichen will. Sie entwickeln dann eine Skepsis gegenüber dem gesamten Gesundheitswesen, gegenüber allen amtlichen Untersuchungen oder Kontrollen des Mutter-Kind-Passes.

STANDARD: Warum hat gerade die Masernimpfung so einen schlechten Ruf?

Thießen: Für viele Eltern ist es eine Abwägungsfrage: Je bedrohlicher die Krankheit erscheint, desto eher fällt die Entscheidung für eine Impfung aus. Die Masern werden in vielen Kreisen als Kinderkrankheit abgetan, die das Immunsystem stärkt. Der gegenteilige Effekt war bei der Schweinegrippe sichtbar: Durch die mediale Berichterstattung war das Bedrohungsgefühl so stark, dass es kurzfristig einen Run auf die Impfungen gab.

STANDARD: Ist die Zahl der Impfgegner europaweit vergleichbar?

Thießen: Es gibt Unterschiede zwischen West- und Osteuropa, auch zwischen der ehemaligen DDR und der ehemaligen BRD. Impfprogramme und Vorsorge hatten im ehemaligen Ostblock einen höheren Stellenwert. Sie waren an ein Gesellschaftsmodell gekoppelt. Vorsorge galt als das Paradebeispiel für ein modernes, effektives Gesundheitssystem. Deshalb waren Impfprogramme im Sozialismus früher, systematischer und umfangreicher im Alltag verankert. Das wirkt bis heute nach.

STANDARD: Das merkt man auch an der Zahl der Erkrankten: In Ungarn und Tschechien, die jetzt auch eine Masernimpfpflicht haben, gibt es keine Fälle.

Thießen: Dort hat es historische Wurzeln, Impfen ist eine Selbstverständlichkeit.

STANDARD: Viele Eltern sind vor allem bei Mehrfachimpfungen skeptisch. Wie kann man hier die Vorbehalte nehmen?

Thießen: Sobald aufgeklärt wird, steigt die Bereitschaft zum Impfen. Mehrfachimpfungen setzen sich ab den 1950er- und 60er-Jahren durch. Sie werden als der Königsweg betrachtet, um einen systematischen Schutz zu erreichen. Bei vielen entsteht das Gefühl, dass damit Impfungen mitverkauft werden, die vielleicht gar nicht notwendig wären. Wenn man Eltern abwägen lässt, ist Aufklärung über Infektionskrankheiten entscheidend. Natürlich müssen dabei auch die Nebenwirkungen von Impfungen, die tatsächlich verschwindend gering sind, thematisiert werden. (Marie-Theres Egyed, 23.3.2017)