Exom im Fokus von molekularer Medizin

Der Mensch besitzt rund 23.000 Gene. Sie speichern die Information für den Bau der Proteine. Kommt es zu Mutationen in den Genen, Veränderungen der DNA, kann das zu fehlerhaften Proteinen und damit zu Erkrankungen führen. Das Exom bezeichnet die Abschnitte des Genoms, die Proteine codieren – es macht etwa ein Prozent unseres Genoms aus und beinhaltet fast alle krankheitsauslösenden Mutationen.

Foto: Katsey

Mit elf Jahren entwickelte Alexis Berry, heute 17 Jahre alt, einen derart starken Husten, dass sie sich immer wieder übergeben musste und kaum noch atmen konnte. Seit ihrer Geburt litten das Mädchen wie auch sein Zwillingsbruder an Bewegungsstörungen und Atemproblemen. Beide hatten unzählige Arztbesuche und Therapien hinter sich.

Was ihnen genau fehlte, wusste niemand. 2010 brachte eine Genomanalyse die Diagnose: Aufgrund einer Genveränderung fehlt den Zwillingen ein Enzym, das bei der Bildung der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin eine Rolle spielt. Seit sie diese täglich einnehmen, führen sie ein normales Leben und treiben Sport.

Vor sieben Jahren waren Genomanalysen zu Diagnosezwecken noch exotisch. "Heute wird Medizin zunehmend molekular. Das individuelle Verständnis der genetischen Krankheitsursachen bestimmt entscheidend mit, wie ein einzelner Patient behandelt wird", sagt Kaan Boztug, Direktor des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) in Wien.

Gene, die krank machen

So setzen Ärzte heute verschiedene Subtypen der Genomanalyse in der Diagnostik ein: Gene-Panels untersuchen eine Auswahl von Genen, die für eine bestimmte Krankheit relevant sind; und mit dem Exom erforscht man alle rund 23.000 Gene des Menschen.

Die Exom-Sequenzierung liefert die meisten Informationen und kommt zunehmend bei Krebs und bei seltenen Erkrankungen zum Einsatz. Über 7000 verschiedene Krankheiten sind als selten eingestuft. Häufig sind Betroffene von Geburt an beeinträchtigt. Manchmal leiden nur eine Handvoll Menschen weltweit an der gleichen Erkrankung, was dazu führt, dass die Betroffenen oft viele, zermürbende Jahre brauchen, bis sie erfahren, woran sie tatsächlich leiden – wenn sie es denn je herausfinden. Eine Exom-Sequenzierung kann Klarheit bringen, denn 80 Prozent der Fälle sind monogen veranlagt, das heißt, es ist ein einzelnes Gen verändert.

Für die Untersuchung reicht eine Blutprobe: Genetiker extrahieren das Erbgut, reichern die gewünschten Abschnitte an und entschlüsseln die genetische Information. Sie nutzen dazu das Next-Generation-Sequencing, ein Hochdurchsatzverfahren. "Durch seine geringere Größe, das Exom macht nur gut ein Prozent unseres Genoms aus, kann es schneller und günstiger untersucht werden als das komplette Genom", sagt der Bioinformatiker Christoph Bock vom CeMM – Forschungszentrum für Molekulare Medizin. Rund 1000 Euro kostet eine Exom-Sequenzierung heute – wobei die Analyse und die Interpretation der Daten ein zusätzlicher Kostentreiber sind.

Neue Herausforderung

Zum Vergleich: Die vollständige Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms verschlang drei Milliarden Euro und dauerte 13 Jahre. "Die Fortschritte der vergangenen zehn Jahre waren nicht vorstellbar", bringt es Olaf Rieß, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik, auf den Punkt.

Die anschließende Analyse der etwa 23.000 Gene ist allerdings noch immer eine große Herausforderung: Humangenetiker vergleichen dazu die sequenzierten DNA-Abschnitte mit den entsprechenden Abschnitten eines gesunden Referenzgenoms, um Veränderungen aufzuspüren. Das können vertauschte, eingefügte oder verschwundene DNA-Stücke sein.

"Wir finden sehr häufig genetische Varianten, die in dieser Form noch nie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wurden. Wir müssen dann herausfinden, ob eine beziehungsweise welche dieser Varianten wirklich ursächlich für eine Erkrankung sein kann", sagt Boztug.

Findet man die Ursache, gibt es jedoch nur selten eine Therapie. "Aber Therapie ist nicht alles", sagt Rieß. Für Betroffene ist es oftmals schon eine enorme Erleichterung, die Ursache zu kennen und diese benennen zu können. Wenn man weiß, woran man leidet, kann man nach Experten suchen und vor allem: sich mit anderen Betroffenen austauschen: "Es gibt Facebook-Gruppen, die nach Gennamen benannt sind", sagt Bock.

Work-in-progress

Und wenn es sich um De-novo-Mutationen handelt, also neu auftretende Veränderungen, nimmt es manchen Eltern die möglicherweise vorhandenen Schuldgefühle und erleichtert ihnen die Entscheidung für oder auch gegen ein weiteres Kind. "Mit einer Diagnose lässt sich eine Krankheit einfach besser managen als ohne", sagt Rieß.

Allerdings beschert die Methode nicht allen Patienten eine Diagnose: Mehrere Studien zeigen eine Erfolgsrate von bis zu 31 Prozent – vorausgesetzt, dass die Exome von Vater, Mutter und Kind sequenziert werden, was die Auswertung vereinfacht. Ansonsten sinkt die Erfolgsrate auf etwa 25 Prozent. Experten gehen allerdings davon aus, dass die Rate sich in Zukunft verbessern wird: "Pro Woche werden zehn neue Krankheitsgene entdeckt", sagt Rieß.

Bei Krebs stehen Therapieentscheidungen im Vordergrund. Dazu sequenziert man das Tumorgewebe und vergleicht es mit dem gesunden Gewebe des Patienten, um die krankheitsauslösenden Mutationen aufzuspüren. Denn heute weiß man: Kein Tumor gleicht dem anderen und Patienten sprechen – je nach zugrunde liegender Mutation – unterschiedlich auf Therapien an.

Frage der Finanzierung

"Ziel ist eine auf den Patienten zugeschnittene Therapie. Man erspart dem Patienten damit unnötige Belastungen und dem Gesundheitssystem Kosten: Eine Exom-Sequenzierung ist günstiger als eine wirkungslose Chemotherapie oder Bestrahlung", sagt Bock, der sich Exom-Sequenzierungen nicht nur für Krebspatienten vorstellen kann. "Jeder würde davon profitieren. Beispielsweise würde man nur Medikamente erhalten, die man auch verträgt."

Bis eine Exom-Sequenzierung so alltäglich wird wie eine Blutuntersuchung, dauert es noch. Momentan bezahlt die Krankenkasse die Untersuchung nur in Einzelfällen. Außerdem müssen weltweit gültige Standards für die Auswertung festgelegt werden. "Wir brauchen bessere, systematische Datenbanken, die bereits bekannte, krankmachende genetische Veränderungen auflisten und dabei einen hohen Datenschutz bieten.

Ziel ist, dass man eines Tages auf Knopfdruck ähnliche Fälle findet und sich fachlich austauschen kann", sagt Boztug. Daran gearbeitet wird bereits: So hat ein internationales Forscherkonsortium im August 2016 eine detaillierte Aufschlüsselung des Exoms von rund 61.000 Menschen vorgestellt und in eine frei zugängliche Datenbank eingespeist. So ist Bock, trotz aller Hürden, die noch zu nehmen sind, überzeugt: "Genomanalysen werden in naher Zukunft selbstverständlich sein." (Juliette Irmer, CURE, 19.6.2017)

Originalpublikationen:

Unsolved challenges of clinical whole-exome sequencing: a systematic literature review of end-users’ views

Molecular Findings Among Patients Referred for Clinical Whole-Exome Sequencing

Clinical application of whole-exome sequencing across clinical indications

Genome study solves twins' mystery condition

Effectiveness of whole-exome sequencing and costs of the traditional diagnostic trajectory in children with intellectual disability

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