Für immer und ewig? Für immer nur mit dir? Die Polyamorösen wollen weder Monogamie noch Besitzansprüche.

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Romantische Liebe muss nicht immer traute Zweisamkeit bedeuten. Menschen, die polyamourös leben und lieben, führen Beziehungen mit mehr als nur einer Person zur selben Zeit und erteilen damit sowohl der Monogamie als auch Besitzansprüchen eine Absage. Polyamorie ("Vielliebe"), das klingt schicker als die bekannten Konzepte der freien Liebe oder offenen Beziehung – und meint auch etwas anderes. In polyamoren Konstellationen geht es nicht um ein sexuelles Ausprobieren, die Beteiligten sind vielmehr davon überzeugt, dass Liebe nicht exklusiv ist. "Seit ich so lebe, hat sich einfach alles für mich verändert. Die intensive Auseinandersetzung mit Beziehungen beeinflusst auch andere Bereiche, ich lebe zum Beispiel Freundschaften viel bewusster", sagt Vero. Die junge Wienerin hat gemeinsam mit anderen AktivistInnen das queere Polyamorietreffen ins Leben gerufen, ein Stammtisch für queere "Polys", bei dem sich regelmäßig zwischen zehn und zwanzig Personen austauschen.

In Wien hat sich mittlerweile eine lebendige polyamouröse Szene entwickelt. Bei Vernetzungstreffen finden Neulinge hier außerhalb von Facebook-Gruppen und einschlägigen Foren Anschluss zu Gleichgesinnten, um Erfahrungsaustausch zu betreiben. Überhaupt wird Kommunikation bei der Liebe zu mehrt großgeschrieben: Wer mit wem und unter welchen Voraussetzungen – all das verhandeln PartnerInnen ganz offen. "Intensive Kommunikation ist in Polybeziehungen essenziell, das hat mir in früheren, monogamen Beziehungen gefehlt", sagt Rhonda, die den queeren Stammtisch mitorganisiert. Die Aktivistin lebt gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Kind und ist bei dem Versuch, Erwerbsarbeit, politischen Aktivismus und Betreuungspflichten mit dem zeitintensiven Beziehungsleben unter einen Hut zu bringen, auch schon gescheitert. "Die Zeitfrage ist für viele ein Thema", sagt Rhonda.

Gegenkultur

Auch Birgit Meinhard-Schiebel kennt das Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Die 1946 geborene Grünen-Politikerin widersetzte sich bereits als Jugendliche dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, Meinhard-Schiebel war in der linken Szene aktiv und führte lesbische Beziehungen. "Wir haben ganz unterschiedliche Liebesformen ausprobiert und schnell gemerkt, dass man Dinge wie Eifersucht und Besitzdenken nicht von heute auf morgen ausschalten kann", erinnert sich die ausgebildete Schauspielerin. Alternative Beziehungs- und Familienformen zu entwickeln war für Lesben und Schwule, denen nicht nur eine breite Öffentlichkeit, sondern auch der Staat die Anerkennung verweigerte – bis heute ist die Ehe Heteroverbindungen vorbehalten –, früh Teil des politischen Programms. "Davon geht vielleicht wieder ein Stück verloren. Wir sollten uns nicht zu sehr an der Hetero-Ehe orientieren, nur damit wir endlich gemeinsam den Kinderwagen durch die Stadt schieben können", sagt Meinhard-Schiebel.

Mutter, Vater, Kind

Die Abschaffung der Ehe mitsamt ihrem patriarchalen Ballast war von Beginn an Thema der europäischen Frauenbewegung. Bis in die späten 1970er-Jahre traten Frauen in Österreich vor dem Traualtar viele ihrer Rechte ganz offiziell an den Partner ab, die Ehe war vor allem aber auch ein ideologisches Korsett. "Die Frau wird auf den Mann bezogen, durch seine Interessen definiert und begrenzt, zu seiner persönlichen Gehilfin bestimmt", charakterisiert die deutsche Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim die bürgerliche Familie, die sich im Zuge der Industrialisierung herausbildete. Auch die Romantisierung der Zweierbeziehung ging mit dieser Entwicklung einher, Frauen wurden zum Liebesobjekt, zum "Symbol des Guten und Schönen".

Dass dieses Ideal der romantischen Paarbeziehung keineswegs aus den Köpfen junger Menschen verschwunden ist, weiß Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung. "Die rigide Sexualmoral vergangener Zeiten findet man heute unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen fast gar nicht mehr. Dennoch hat eine Mehrheit ein sehr romantisches Beziehungsideal", sagt Ikrath. Während eine große Offenheit gegenüber ungewöhnlichen Liebesmodellen herrsche, die von anderen gelebt werden, träumten viele für sich selbst allerdings von der monogamen Kleinfamilie. "Laissez-faire-Haltung" nennt das der Jugendforscher. Junge Frauen und Männer würden sich diesbezüglich praktisch nicht unterscheiden, ausschlaggebend für mehr oder weniger konservative Haltungen sei vielmehr das soziale Milieu.

Polysexismus

"Ich glaube die heteronormative Kleinfamilie und die romantische Zweierbeziehung sind ideologische Gefängnisse, die Frauen unterdrücken", so radikal formuliert es Anne Marie. Die Studentin und Aktivistin hat feste Beziehungen zu zwei Männern – die drei leben polyamor. Zu einer bestehenden Beziehung kam neue Verliebtheit, aus dem anfänglichen Drama wurde eine Polyliebe, die nun schon seit zweieinhalb Jahren gut funktioniert. Ungläubige Fragen bis hin zu Anfeindungen kennt Anne Marie dennoch zur Genüge. Als Frau wird sie häufig zum Besitz erklärt, den ihre beiden Partner sich teilen müssten. "Ich soll also dankbar sein, dass sie sich sozusagen für mich opfern", sagt Anne Marie. Nichtmonogame Liebesformen würden Männern generell eher zugebilligt als Frauen, schreibt dazu die Soziologin Gesa Mayer – die patriarchale Geschichte kultureller Vorstellungen von Liebe und Sexualität hat ihre Spuren hinterlassen.

Das Sprechen über solche sexistischen Zuschreibungen vermisst Aktivistin Anne Marie indes innerhalb der Polyszene. In der medialen Öffentlichkeit seien meist Männer präsent, die mehrere Frauen lieben, schnell würde von Hippie-Kommunen gesprochen oder Vergleiche mit einem Harem gezogen. Aber auch die Auseinandersetzung mit patriarchalen Logiken innerhalb von Beziehungen sieht Anne Marie als Leerstelle: "Wir müssen zum Beispiel über die Arbeitsverteilung in Beziehungen sprechen. Sexistische Muster werden durch Polyamorie nicht einfach aufgelöst." Im Mikrokosmos der Poly-Community – AktivistInnen von Polyamory.at schätzen die Zahl in Österreich auf einige Tausend polyamor lebende Menschen – lasse sich kein breites Umdenken herbeiführen. Vielmehr brauche es einen Anschluss an gesellschaftspolitische Kämpfe über die persönlichen Liebesentscheidungen hinaus, ist die Studentin überzeugt.

Rechtliche Fragen

Auf der Ebene des Rechts sehen sich Polys mit Fragen konfrontiert, die schon von der LGBT-Bewegung beackert wurden. "Rechtlich gesehen gibt es offene Forderungen. Zum Beispiel ist es nicht möglich, im Krankenhaus mehrere Bezugspersonen anzugeben, und auch in Hinblick auf gemeinsame Kinder brauchte es eine rechtliche Flexibilisierung", sagt Rhonda. Die Frage der Anerkennung ist für viele offen polyamor Lebende aber auch außerhalb des rechtlichen Rahmens allgegenwärtig. Dass Poly-Treffs im deutschsprachigen Raum vor allem in größeren Städten stattfinden, ist kein Zufall. Polyamorie spielt sich überwiegend in urbanen, gut gebildeten Milieus ab. Wer sich für diese Lebensform entscheidet, benötigt nicht nur entsprechende Zeitressourcen, sondern auch kommunikative und emotionale Kompetenzen – und im besten Fall ein unterstützendes Umfeld. "Ich muss schon sagen, dass ich in einer Offenheitsblase lebe", erzählt Vero.

In ihrem queeren Umfeld stößt die Wienerin auf breite Akzeptanz, selbst an ihrem Arbeitsplatz ist das Thema zumindest nicht tabu. "Die Blasen, in denen wir leben, verstellen uns manchmal die Sicht auf nach wie vor existierende Probleme", sagt indes Birgit Meinhard-Schiebel. Sie selbst erlebe zwar keine Ablehnung – aber auch nach Jahrzehnten feministischer und LGBT-Kämpfe fühlt sich die Politikerin als lesbische Frau oft nicht ernst genommen. "Und da spreche ich jetzt noch gar nicht davon, dass mir als 71-Jährige Sexualität sowieso nicht mehr zugestanden wird. Es gibt wohl doch noch einige Kämpfe auszutragen." (Brigitte Theißl, 16.4.2017)