Matthias Oden: "Junktown"
Klappenbroschur, 400 Seiten, € 13,40, Heyne 2017
Also so aus dem Stand umgeblasen hat mich seit Dietmar Daths "Pulsarnacht" kein deutschsprachiger SF-Roman mehr. Mit der Synthese von Technologie, Biologie, Pharmazeutik und totalitärer Politik macht der aus Werbung und Journalismus kommende deutsche Autor Matthias Oden sein dystopisches Gesellschaftspanorama "Junktown" zu einem einzigartigen Mix. Und zu einem Hammer-Debüt – genauer gesagt ist es ein Vorschlaghammer.
Oden, der Wortgenerator
Neue AutorInnen machen oft den Fehler, kühne Ideen und bombastische Formulierungen rauszuhauen und sie dann mit konventionelleren Elementen "auszugleichen". Ganz falsch. Oden hingegen tut das einzig Richtige: nämlich das Übertriebene/Plakative/Knallige nicht in der Luft hängen, sondern in einer Lawine aus genauso oder noch mehr Übertriebenem/Plakativem/Knalligem mitrollen lassen. Das schafft eine neue, in sich stimmige Wirklichkeit – angesiedelt gewissermaßen auf einer höheren Ebene des Grellen. China Miéville hat diese Taktik zu einer Kunstform erhoben.
Beispiel Wording: Odens Welt ist in einer alternativen Zeitlinie oder nahen Zukunft nach der Konsumistischen Revolution angesiedelt: Der Konsum harter Drogen wurde damals legalisiert, und ist – weil sich die postrevolutionäre Gesellschaft seitdem zu einer faschistoiden Diktatur entwickelt hat – mittlerweile verpflichtend. Mehr als einmal wird man unwillkürlich "kommunistische" statt "konsumistische" Partei (Kürzel natürlich: KP) lesen. Und bliebe das das einzige Beispiel, wäre es nur ein kalauerndes Wortspiel. Doch da sind auch noch antikonsumistische Umtriebe. Politlabor. Konsumkraftzersetzung. Kraft durch Konsum. Rauschparteitag. Gemapo (die Geheime Maschinenpolizei). Und und und. Ohne Unterlass prasselt hier eine Lawine aus verballhorntem Nazi-und Sowjetsprech auf uns ein, man kommt aus dem Staunen kaum raus.
Meinen allerersten Leseeindruck – ich fühlte mich kurz an Warren Ellis erinnert – habe ich rasch verworfen, Oden ist um einiges sprach- und bildmächtiger. So etwa liest sich die Beschreibung einer staatlichen Aufsichtsbehörde: Sie beobachteten, kontrollierten, straften. Sie waren die Polymerasen, die unablässig den Genstrang der Gesellschaft nach Fehlern absuchten, die Killerzellen, die im Volkskörper ausmerzten, was krankhaft war und gefährlich. Ausgestattet mit den weitestreichenden Befugnissen, die die KP an ihre Staatsdiener vergab, gingen sie dabei ähnlich effektiv vor wie ein Immunsystem auf Vitaminspeed. – Zugegeben, man kann eine Metapher auch zu Tode reiten. Aber wenn man sie nur oft genug tritt, steht sie wieder auf und läuft weiter.
Was eigentlich passiert
Blenden wir vom alles erschlagenden Setting mal kurz zur Handlung, die ist rasch erzählt. Es gibt nur eine Handvoll Methoden, ein dystopisches System von innen zu beschreiben. Oden hat sich für die Variante vom ehrenwerten Polizisten entschieden, der ein Verbrechen aufklären will, erkennen muss, dass die Tat einen politischen Kontext hat, und dadurch selbst in Gefahr gerät. "Junktown" ist letztlich ein Noir-Krimi, ganz simpel eigentlich. Und doch so originell!
Besagter Polizist, ein altgedienter Revolutionsheld in seinen 50ern, heißt übrigens Solomon Cain. Ein Homophon zu Robert E. Howards Pulp-Held Solomon Kane. Da "Junktown" (eigentlicher Name: Jaxton) eine Hommage an Jeffrey Thomas' "Punktown" (Paxton) ist, scheint es mir unwahrscheinlich, dass die Ähnlichkeit zufällig ist. Zwingende Parallelen zwischen Howards Puritaner und Odens Hardboiled-Detektiv fallen mir zwar keine auf. Die durchgängig anglo-jiddischen Namen der BewohnerInnen Junktowns tragen aber auf jeden Fall dazu bei, die Romanwelt seltsam zeit- und ortlos wirken zu lassen.
Und das Mordopfer, für das Solomon zu einer faszinierend bizarren "Leichenbeschau" gerufen wird, war kein Mensch, sondern eine denkende und fühlende Maschine – genauer gesagt eine Brutmutter, die Menschen züchtet. Ist jemand überrascht, dass sie einen menschlichen Liebhaber hatte? Nun, spätestens dann, wenn man dazusagt, dass die Brutmutter keine anthropomorphe Konstruktion war, sondern ein mehrstöckiger Fabrikkomplex aus Metall (aber immerhin mit einem Beischlafstutzen versehen, im Volksmund auch Muschibüchse genannt).
Bizarrer als "Brazil"
Und schon sind wir wieder mitten in der Grandezza des Settings. Da werden Embryos je nach Bedarf in Richtung verschiedener Humanklassen gezüchtet. Wer will oder Geld braucht, kann seinen Körper auch nachträglich modifizieren lassen – ein Mann, den Solomon im Wartezimmer eines Arztes sieht, hat sich beispielsweise zum Gynäkomastiden machen lassen und gibt aus seinen zehn Brüsten Designer-Milch. Auf den Straßen lauschen laternenpfahlhohe Zerebralscanner (kurz Zebras) auf die Biosignale gesuchter Verbrecher, Stimmungsorgeln produzieren Gefühle nach Wunsch, Terroristen versuchen die Geschäfte börsengelisteter Gebärkonzerne (noch so ein schöner Ausdruck) zu stören, und es fallen die Namen von mehr Drogen, als ich je in meinem Leben gehört habe.
"Junktown" erinnert an den Biopunk der 90er und an die New-Weird-Strömung der Jahrtausendwende. Es fallen einem Autorennamen wie Paul di Filippo, China Miéville, Frank Hebben, Jeffrey Thomas oder John Meaney ein. Und auf der anderen Seite, wenn es um die brachialen Polit-Aspekte geht, die ganz klassischen Gesellschaftsdystopien à la "1984", "Brave New World" oder "Uhrwerk Orange", aus denen sich hier auch einige Zitate wiederfinden – im Sinne einer Verbeugung, nicht eines Plagiats.
MegaMechaXXL
Satirische Elemente reichen von den Pinkeltests, bei denen man im Gegensatz zu früher nachweisen muss, dass man tatsächlich Drogen nimmt, bis zur Tatsache, dass Müll nun als Statussymbol gilt. Da die Bevölkerung fast die ganze Zeit über zugedröhnt zuhause hockt und nur noch Maschinen das Funktionieren des Staates notdürftig aufrechterhalten, wird ja fast nichts mehr produziert. Der begehrte Müll, der wohlgefälligen Konsum vorgaukeln soll, wird daher auf Deponien aus der vorrevolutionären Zeit ausgebuddelt und nach Hause geliefert. Dafür gibt es logischerweise eine Müllanfuhr.
Worauf genau die Satire abzielt, ist hingegen gar nicht so leicht zu sagen. Auf diktatorische Systeme? Scheint mir zu einfach zu sein. Auf die Konsumgesellschaft? Immer noch zu platt. Vielleicht geht es ja um die generelle Neigung menschlicher Gesellschaften, egal welcher Art, mit der Zeit zur jeweils schlimmsten Ausformung ihrer selbst zu werden. Das wäre zumindest ein ernüchternder Befund, der zum gleichermaßen düsteren Inhalt des Romans passen würde. Aber bevor wir jetzt deprimiert nach Hause torkeln, lassen wir uns noch einmal von Odens sprachlichem Flow mitreißen und besuchen mit ihm das Rotlichtviertel von Junktown:
Nicht jede der ausgebrannten Glühbirnen in den leuchtenden Eingangsbaldachinen der Beischlafkabinenhotels wurde mehr ersetzt, manche der Koitomatenhallen standen halb leer und trist da, und zwischen modernisierten Wichsarenen und Cunnilinguslounges fand sich auch immer mal eine völlig durchgerostete Entsaftungsanlage oder eine Rubbelstation, deren poröses Polyurethan-Innenleben entweder von unbefriedigten Kunden oder einfach nur zugedröhnten Flaneuren herausgerissen worden war. Neue, strahlende Neonreklamen wechselten sich ab mit welken Plakaten; von MASTERbation bis MegaMechaXXL versprachen sie Abhilfe für so ziemlich jedes sexuelle Bedürfnis. "Hier bin ich groß geworden. Wir fahren gerade auf meinem Schulweg", sagte sie.
Also meine Nominierung für den Kurd-Laßwitz-Preis 2018 steht fest.