Frankreich steht am Scheideweg, Marine Le Pen ist so nah wie nie am Einzug in den Élysée-Palast dran.

Grafik: Felix Oppenheim-Grütsch

Nach der unerwarteten Entscheidung des Vereinigten Königreichs für einen EU-Austritt und Donald Trumps Wahlsieg könnte man sich denken, dass die europäischen Staatskanzleien detaillierte Notfallpläne für den Fall eines Sieges der rechtsextremen Front-National-Führerin Marine Le Pen bei der französischen Präsidentenwahl entwickelt haben.

Project Syndicate

Falsch gedacht. Wie es scheint, ist der Gedanke an eine Präsidentin Le Pen ist so beängstigend und eine solche Bedrohung für Europas Zukunft, dass es für viele bloße Möglichkeit bleibt, die sie nicht in Erwägung zu ziehen und schon gar nicht einzuplanen wagen. Aber genau wegen dieser Bedrohung muss Europa sich ernsthaft mit der Möglichkeit ihres Sieges auseinandersetzen, egal wie unwahrscheinlich er sein mag.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Le Pen als Präsidentin Frankreichs dem europäischen Projekt ernsthaft schaden könnte. Sie hat sich selbst als Gegenpol zu Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel positioniert und versprochen, die Schengenzone und die Eurozone zu verlassen. Sie verspricht in die Fußstapfen Großbritanniens zu treten, die Bedingungen der Mitgliedschaft Frankreichs neu zu verhandeln und über den Vertrag ein Referendum abzuhalten. Falls die EU die Reformen ablehnt, die Le Pen verlangt, will sie für einen Ausstieg Frankreichs (wahl-)kämpfen.

Es würde aber wichtige Unterschiede zwischen Brexit und Frexit geben. Während sich viele britische Euroskeptiker ein globales Großbritannien, das mit der Welt Handel treibt, ausmalen, will Le Pen protektionistische Politik machen. Anstatt Offenheit will sie die Großmachtbeziehungen mit Russland und den USA vertiefen sowie sich auf die Verteidigung traditioneller christlicher Werte und auf den Kampf gegen den Terror im Kontext einer multipolaren Weltordnung konzentriert.

Um diese Ziele zu unterstützen, verspricht Le Pen, Frankreichs Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des Bruttinlandsprodukts zu erhöhen (Ziel der Nato sind zwei Prozent), und macht dabei den Wählern klar, dass nichts von diesen Geldern für die Unterstützung stabilisierender Missionen in Afrika ausgegeben werden würde. In diesem Sinne würde ein Sieg Le Pens zu einem Bruch nicht nur mit dem europäischen Mainstream, sondern auch mit Frankreichs strategischer Orientierung der letzten Jahrzehnte führen.

Meinungsumfragen favorisieren vorerst den unabhängigen, gemäßigten Kandidaten Emmanuel Macron im zweiten Wahldurchgang. Aber viele befürchten, dass Macrons Unterstützer nicht so aktiv sein werden wie die Le Pens, die erneut zur Wahl gehen werden.

Tatsächlich blieb zuletzt die Unterstützung für Le Pen im Volk eher gleich, ihre Führung im ersten Wahldurchgang in den Meinungsumfragen stabil, sogar als die französische Politik durch Skandale und Misstrauen in Aufruhr geriet. Dieser politische Sturm verursachte eine Fragmentierung des französischen Zweiparteiensystems in ein Vierparteienarrangement und hat die Favoriten aus dem Rennen genommen, während Le Pen unversehrt blieb.

Die Gründe für ihren Aufstieg haben viel mit ihrer Neuerfindung des Front National zu tun. Sie hat es geschafft, dem rechtsextremen Ghetto zu entkommen – mit einer großen Strategie, geformt von ihrem Verbündeten Florian Philippot. Diese zielt darauf ab, die Anziehungskraft auf Gruppen auszuweiten, die es bisher vermieden hatten, Le Pen zu wählen (insbesondere Beamte, Frauen und Katholiken).

Philippot legte auch die Grundlagen für eine Le Pen-geführte Regierung. Er versuchte eine neue politische Elite aufzubauen, die in Regierungen dienen und die Widerstände der Verwaltung gegen die Parteiagenda überwinden kann. Er lotete aus, was sich ein Präsident erlauben kann ohne das Plazet des Parlamentes – das Ansetzen von Referenda inklusive.

Im Gegensatz zu Le Pen erscheinen die europäischen Spitzenpolitiker allesamt unvorbereitet. Natürlich gibt es bei so vielen Unbekannten in der Gleichung Grenzen des Planbaren. Zu diesem Zeitpunkt könnten zu spezifische Feststellungen sogar kontraproduktiv sein. Aber das bedeutet nicht, dass die Spitzen der EU schlicht vor dem Ende der EU bei einem Wahlsieg Le Pens warnen sollten – und es gleichzeitig dabei belassen.

Stattdessen sollten sie überlegen, inwieweit sie neben einer Le-Pen-Präsidentschaft arbeiten könnten. Denn selbst wenn sie gewinnt, wird sie Schwierigkeiten haben, eine Mehrheit im Parlament zu finden. Sie wird in Kohabitation mit einem feindlichen Parlament und Premier müssen. Könnten die EU-Spitzen mit diesen Teilen der französischen Regierung informell zusammenarbeiten?

Austritt befördern

Europas Führer müssen auch eine Antwort auf Le Pens Ankündigung parat haben, Frankreichs EU-Mitgliedschaft nachzuverhandeln, und klären, wie lange sie gegen deren Pläne, Frankreich aus Europa herauszulösen, Widerstand leisten sollen. Es könnte sogar der Fall sein, dass sie einen Austritt Frankreichs befördern müssten, um zu verhindern, dass Le Pen die EU von innen aufzulösen versucht, indem sie Allianzen etwa mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bildet. Das ist eine Möglichkeit, die bedacht werden muss.

Le Pens Sieg würde weit destruktiver für die EU sein, als es der Brexit ist. Wenn wir etwas im Annus horribilis 2016 gelernt haben, dann dass Meinungsumfragen fehlerhaft sind. Besser als ihre Augen zu schließen, sollte die EU auch für Worst Cases vorbereitet sein. Die Pläne werden möglicherweise nie gebraucht, aber die Spitzen der EU sollten sie haben und nicht später wünschen, dass sie diese vorher hätten machen sollen. Copyright: Project Syndicate. (Mark Leonard, 24.4.2017)