Friedrich Achleitner, Doyen der Architekturkritik, bezeichnete Wien einmal als Welthauptstadt der Verdrängung. Das kann gut sein. Wien verdrängt Entscheidungen (Hochhäuser ja, nein, vielleicht) und es verdrängt Räume und Funktionen. Was im Zentrum nicht Platz hat, wird an den Rand gedrängt. Das meiste davon seit jeher in Richtung Südosten, nach Simmering. Als Wien im 19. Jahrhundert zur Großstadt wuchs, wurde Simmering zum Auffangbecken all dessen, was die Stadt produziert und sie am Leben erhält – vom Gaswerk bis Zentralfriedhof. Simmering gehört zur Wiener Großstadtwerdung ebenso wie Coney Island zu New York, das der niederländische Architekt Rem Koolhaas in Delirious New York beschreibt. Auf Coney Island wurde bis 1911 all das erprobt, was New York später zur Metropole machte: kühne Stahlkonstruktionen, eine deliriöse Lichtreklame und erotisierende Vergnügungsorte.

Auslagerungsort Simmering, Kartierung der Kläranlagen.
Karte: Pollak, Urbanek, Eder

Simmering ist urbanes Testgelände

Auch Simmering eignet sich hervorragend als Untersuchungsgegenstand einer metropolitanen Entwicklung (retrospektiv) und als Testgelände für urbane Projekte (prospektiv). Meine These ist jene: Simmering ist urbaner als viele andere Stadtteile Wiens. Hier stehen Wohnhochhäuser – warum auch nicht –, werden Brachen zwischengenutzt und stehen neue Stadtverdichtungen neben Produktionsbetrieben. Der Bezirk erinnert mich an Berlin, das auch nicht überall schön ist, aber großstädtisch. In Simmering hat großstädtische Vielfalt Geschichte. Auf der Simmeringer Haide fanden um 1900 Flugvorführungen statt, die Straßenbahn führte von hier bis Bratislava und Schiffe schwammen im Wiener Neustädter Kanal quer durch den Bezirk. Dazu kamen nicht realisierte utopische Projekte wie ein pneumatischer, unterirdischer Leichentransport, damit man die Leichen nicht sieht, wenn sie zum Zentralfriedhof gebracht werden (Verdrängungswelthauptstadt).

Solche Kreuzungen erinnern an Berlin.
Foto: Miriam Pollak
Wohnhochhaus neben Brache und Bahntrasse. Hier ist mehr möglich als sonst in Wien.
Foto: Julian Mullan
Simmeringer Zwischennutzung: "Fabulous Zwischenstadt" von Miriam Pollak und Daniel Mikolajcak, 2014
Foto: Sabine Pollak

Wien im Wochenbett

Simmering ist ein Gegenort zur repräsentativen Stadt. 1966 fand der französische Philosoph Michel Foucault einen Begriff für solche Gegenorte: Heterotopien. Zu den Heterotopien zählen laut Foucault unter anderem Schiffe, Friedhöfe, Klöster, Bordelle, Kinos, Züge und Festwiesen. In Simmering gibt es eine ganze Menge solcher untergenutzter, aber offener Orte, die einen kurzfristigen Ausnahmezustand erlauben. Hier ist Wien vielfältig, durchmischt, rau und ein wenig wild. Ist es nicht das, was wir suchen, wenn wir Stadt neu planen? (Sabine Pollak, 28.4.2017)

Weiterführende Literatur

  • Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. ARCH+ Buch 1, Aachen 1999.
  • Foucault, Michel: Andere Räume. In: Ritter, Roland u. Vlay Bernd: Other Spaces. Die Affäre der Heterotopie. HDA Dokumente 10, Graz 1998.
  • Pollak, Sabine, Urbanek Katharina u. Eder Bernhard: Das Andere der Stadt. Projektion Simmering. Wien, 2008. 

Nachlese

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