San Diego / Wien – Wann erreichten Menschen erstmals den amerikanischen Kontinent? Diese Frage ist schon lange Gegenstand archäologischer Kontroversen. Die ältesten gesicherten Funde sprechen dafür, dass es vor etwa 15.000 Jahren zu den ersten Einwanderungswellen aus Asien über die Landbrücke Beringia nach Nordamerika kam.

Immer wieder deuten neue Funde auf eine frühere Besiedlung der Neuen Welt hin – so beschrieben Forscher im Jänner dieses Jahres in "Plos One" rund 24.000 Jahre alte Tierknochen, die in einer Höhle in Kanada gefunden worden waren und Spuren menschlicher Bearbeitung aufweisen. Wenn sich das bestätigt, wäre es eine spektakuläre Wende bei der Suche nach den ersten Einwohnern Amerikas.

Potenzieller Paradigmenwechsel

Doch nun präsentiert ein Forscherteam im Fachblatt "Nature" eine Studie, die alle bisherigen Annahmen vollkommen über den Haufen werfen könnte: Es will ebenfalls an Tierknochen Spuren menschlicher Aktivität im heutigen Kalifornien entdeckt haben, die ein Alter von 130.000 Jahre aufweisen. Demnach würde es sich bei den Ausgrabungen im kalifornischen San Diego um den mit Abstand ältesten archäologischen Fundort Amerikas handeln – um ganze 115.000 Jahre älter als andere Nachweise menschlicher Präsenz auf dem amerikanischen Doppelkontinent.

Kurzfilm über die Arbeit zur aktuellen Studie.
nature video

"Meine erste Reaktion war: Man wird uns für verrückt halten – das ist ein Paradigmenwechsel", sagte Koautor Thomas Deméré vom San Diego Natural History Museum. Tatsächlich gibt das Studienergebnis allen Anlass zur Vorsicht und wird mit Sicherheit auf Skepsis stoßen: Denn auch hier handelt es sich nur um indirekte Spuren menschlicher Präsenz.

Doch was die Wissenschafter um Deméré und Steven Holen (ebenfalls San Diego Natural History Museum) vorlegen, scheint auf einigermaßen festen Beinen zu stehen. Entdeckt wurde die Cerutti Mastodon Site genannte Fundstätte bereits im Jahr 1992: Bei archäologischen Routinegrabungen vor dem Bau einer Lärmschutzwand für einen kalifornischen Highway stießen Wissenschafter auf gut erhaltene Knochen eines Amerikanischen Mastodons, eine Rüsseltierart, die vor etwa 10.000 Jahre ausstarb.

3-D-Rekonstruktion (links) und Überreste des Amerikanischen Mastodons aus Kalifornien.
3-D-Rekonstruktion: University of Michigan, Foto: SDNHM

Zertrümmerte Knochen

Hinweise darauf, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hat, wurden schon bei den Grabungsarbeiten erkannt: Die Knochen wiesen auffällige Frakturen auf, wie sie bei der Bearbeitung mit Schlagsteinen entstehen. Zudem schien die unnatürliche Anordnung der Mastodon-Überreste verdächtig.

Die Knochen waren gruppenweise verteilt, in unmittelbarer Nähe dazu fanden sich mehrere große Steine, die sich deutlich vom kleinkörnigen Material der Sedimentschicht unterschieden und als Werkzeuge – Schlagsteine und Ambosse – infrage kamen.

Spuren auf diesem Stein deuten darauf hin, dass er zum Zertrümmern von Mastodonknochen verwendet wurde.
Foto: Tom Deméré

Die große Überraschung brachte aber erst die jetzt veröffentlichte Datierung der Funde: Mithilfe radiometrischer Verfahren konnte deren Alter auf 120.000 bis 140.000 Jahre eingegrenzt werden und fällt damit mit der letzten interglazialen Warmzeit, der sogenannten Eem-Warmzeit, zusammen. Auch die Knochenfrakturen stammen aus dieser Zeit.

Gezielte Vorgangsweise?

Doch wie lässt sich sagen, ob diese Verletzungen nicht durch natürliche Prozesse zustande kamen? Die Ergebnisse umfangreicher Analysen der Überreste und der mutmaßlichen Steinwerkzeuge deuten nach Angaben der Wissenschafter auf eine klare Antwort hin: "Ich war zunächst selbst skeptisch, aber alles spricht dafür, dass es sich hier um die älteste archäologische Fundstätte Amerikas handelt", so Holen. "Die Knochen zeigen deutliche Anzeichen, dass sie absichtlich und mit handwerklichem Geschick bearbeitet wurden."

Aufnahmen der Grabung.
NPG Press

Es gebe keine Hinweise darauf, dass das Tier an dieser Stelle auch erlegt wurde, es seien jedoch gezielt große Knochenstücke herausgehauen worden – vermutlich um daraus Werkzeuge zu fertigen oder um an das nahrhafte Knochenmark zu gelangen. In mehreren Experimenten bearbeiteten die Forscher Elefantenknochen selbst mit solchen Steinwerkzeugen und verglichen das Ergebnis: Das Muster der Frakturen und die Abnutzungserscheinungen der Steine brachten ein sehr ähnliches Resultat.

Spannende Spekulationen

Als stichhaltiger Nachweis kann das freilich noch nicht gelten. Die israelische Paläontologin Erella Hovers (Hebrew University in Jerusalem) hält die neue Studie in einem Begleitkommentar in Nature jedenfalls für sorgfältig durchgeführt und schwierig zu entkräften. Sollte sich das Ergebnis bestätigen, wirft es große Fragen auf: Wenn es vor 130.000 Jahren schon Menschen in Nordamerika gab, wer waren sie, wie kamen sie dorthin und was ist aus ihnen geworden? Antworten können nur eindeutigere Funde liefern. Die Wissenschafter spekulieren aber, dass es sich um Verwandte der Neandertaler gehandelt haben könnte, deren Lebensraum sich zur fraglichen Zeit bereits bis nach Sibirien erstreckte.

"Denkbar wäre auch, dass es schon archaische anatomisch moderne Menschen waren", so Koautor Richard Fullagar (University of Wollongong). Die Einwanderung wäre wohl in jedem Fall über Beringia erfolgt: entweder, noch bevor der steigende Meeresspiegel vor etwa 130.000 Jahren die Landbrücke flutete, oder danach über den Seeweg. So neu wäre die Neue Welt dann wohl doch nicht. (David Rennert, 26.4.2017)