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Das rätselhafte Fabelwesen fasziniert seit über zwei Jahrtausenden – und der Einhorn-Hype nimmt kein Ende.

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Wenn schon Einhorn, dann kitschig: Socken von Monki, Seife von Asos, Sweater vom Dawanda-Shop Breakingrocks, Kissen von The Fox in the Attic bei Etsy.

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Auch als Verkleidung beliebt, nicht nur bei Kindern.

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Seine Unschuld hat das Einhorn längst verloren. Statt als stolzer Vierbeiner mit elegant eingedrehtem Horn durch Hieronymus Boschs "Garten der Lüste" zu wandeln, hinterlässt es Regenbögen auf Toilettenpapier, rosafarbenen Bratwürsten oder den Schokoladequadraten von Ritter Sport. Und verzaubert Socken, Seifen, T-Shirts, Duschgel. Das Einhorn ist überall – und es nervt. Denn wo der flauschige Vierbeiner mit den Wimpern klimpert, rollt der Rubel.

Einfach nur weiß ist das Tier schon lang nicht mehr, seine phallische Qualität (das eingedrehte lange Horn!) ist erst recht in den Hintergrund gerückt. Das religiös überhöhte, "in der indischen Nationallegende Mahabharata schnellste, mächtigste, reinste Tier", so der deutsche Medienwissenschafter Jochen Hörisch, ist heute ein Knuddeltier mit pastellrosa Schnauze und geschwungenen Wimpern. Meist sieht es ziemlich dämlich aus – wie ein unbedarftes Pony mit Glubschaugen, Regenbogenschweif und gestutztem Horn.

Hörisch kann sich darüber aufregen, dass das "einst erhabene Symbol der Hochkultur" durch seinen rosaroten Anstrich pubertären Bedürfnissen angepasst wurde: "Das Einhorn ist verdammt noch mal weiß." Der Medienwissenschafter weiß, wovon er spricht. Schon Mitte der 1980er-Jahre hat er ein Buch über "Das Tier, das es nicht gibt" geschrieben. Hörisch hatte damals den gehörnten Vierhufer bei Michael Ende, Rilke, in der Bibel und auf Teppichen im Pariser Museum Cluny entdeckt und fragte sich: Was hat es mit dem rätselhaften, fantastischen Tier auf sich? Seither ist er immer wieder von ihm eingeholt worden. Allein steht Hörisch mit seinem Faible für das Einhorn nicht da.

Faszination Fabeltier

Das Fabeltier fasziniert seit über zwei Jahrtausenden. Viele wollen es seither gesehen haben. Es gespensterte durch die Literatur und wurde auf Abbildungen eingefangen. Eine erste abenteuerliche Beschreibung des Einhorns tauchte rund 50 nach Christus in der Enzyklopädie "Naturalis historia" auf: Der römische Naturwissenschafter Plinius der Ältere meinte, sein Körper ähnele dem eines Pferdes, sein Kopf dem des Hirschs, seine Beine denen des Elefanten, sein Schwanz dem des Ebers. Mitten auf der Stirn prange ein zwei Ellen langes Horn. Marco Polo will das Einhorn im 13. Jahrhundert auf Sumatra gesehen haben, auf dem Kirchenboden von San Giovanni Evangelista im italienischen Ravenna befindet sich noch heute ein tapsiges Einhornmosaik aus dieser Zeit. Im Mittelalter wurde das pulverisierte Horn des sagenumwobenen Vierbeiners als Potenzmittel verschachert.

Kein Wunder, dass lange davon ausgegangen wurde, dass das Einhorn ein Lebewesen aus Fleisch und Blut sei. Bis ins 18. Jahrhundert wurde im Alten Testament das hebräische Wort "Re'em" als Einhorn interpretiert. Ein Übersetzungsfehler, wie sich später herausstellte: Eigentlich war eine Ochsenart gemeint.

Ob Ochse oder Einhorn ist Modeunternehmen wie Monki oder Asos heute einigermaßen wurscht. Sie kommen den Gelüsten der pubertierenden Generation Lillifee nach, die mit Einhorn Rosalie aufgewachsen ist und nach den Vierbeinern verlangt – den niedlichen, wohlgemerkt. Vor allem im Internet ist das Einhorn ein Hit. Der kanadische Youtuber Andrew Huang hat 2010 das Lied "Pink Fluffy Unicorns" komponiert, denn: "Einhörner gehen immer." Heute ist der Song ein Netzklassiker.

ANDREW HUANG

Auch Daniel Decker, Jahrgang 1982, beschäftigt der Vierbeiner im Internet. Er führt seit 2009 den Blog "Das kotzende Einhorn" und beobachtet seit Ende der Nullerjahre ein gewachsenes Interesse an dem Vierbeiner. Dessen Darstellung hat sich in den letzten dreißig Jahren verändert. Was heute "wie ein überniedliches, infantiles Fantasieprodukt" aussehe, habe mit den gehörnten Pferden und den Airbrush-Illustrationen aus den 1980er-Jahren, den Auftritten in Filmen wie "Blade Runner", "Legend" oder "Das letzte Einhorn" nichts mehr zu tun.

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Schuld am "superflauschigen" Auftritt der neuen Generation Einhorn ist der 2010 erschienene Animationsfilm "Ich – einfach unverbesserlich", vermutet Decker.

Im Internet hingegen begann die Aufregung schon früher. Hier wurde das unsichtbare rosafarbene Einhorn ("The Invisible Pink Unicorn") schon Anfang der 1990er-Jahre in Newsgroups zum atheistischen Symbol. Die LGBTQ-Community identifizierte sich mit der Einzigartigkeit des bedrohten Lebewesens, das eifrig Regenbögen kotzte, und machte das Einhorn zu ihrem Symbol. Genauso gern wurde das niedliche, unbedarfte Pony mit den Glubschaugen und dem Regenbogenschweif gegen den Strich gebürstet: "Einhörner wurden zu Roboter-Kampfmaschinen, in Webgames spießten Einhörner Nazis auf", erklärt Decker.

Zauber verfolgen

Seit das einstige Symbol des Fantastischen und Einzigartigen aber auf Smoothies, Donuts und bei Starbucks im Frappuccino gelandet ist, ist der Zauber des letzten Einhorns verflogen.

Selbst Einhornfilet gibt es mittlerweile zu kaufen: In der Plastikschale befinden sich bunte Kordeln aus Marshmallow-Masse.
Foto: Petra Eder

Hatte beispielsweise Aileen Lee, Gründerin der Venture-Capital-Gesellschaft Cowboy Ventures, ehemalige Start-ups mit einer Bewertung von einer Milliarde Dollar (und mehr) 2015 noch als "Unicorns", als seltene Spezies bezeichnet, ist aus ihnen mittlerweile eine ganze Herde geworden – und die Bezeichnung hinfällig.

Auch Blogger Decker, der den Hype ums Einhorn schon lang beobachtet, ist entnervt. Seitdem die deutsche CSU-Politikerin Dorothee Bär "kichernd in Facebook-Videos Einhorn-Straßenschilder präsentiert hat", mag er nicht mehr so richtig. So flauschig das Einhorn auch ist. (Anne Feldkamp, RONDO, 21.5.2017)