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Wer krank ist, muss zum Arzt. Nicht immer, finden die Autoren und Ärzte Ragnhild und Jan Schweitzer.

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Ragnhild Schweitzer, Jan Schweitzer:
Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker.

Warum Abwarten oft die beste Medizin ist
KiWi-Paperback 2017
272 Seiten, 15,50 Euro

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Antibiotika gegen Erkältungen, Spritzen gegen Rückenschmerzen, Operationen bei Mandelentzündung oder bei Verschleißerscheinungen des Kniegelenks: Wenn es um die körperliche Gesundheit geht, will man nichts unversucht lassen und lieber auf Nummer sicher gehen. Doch nicht jede medizinische Maßnahme wirkt. Und nicht alles, was Ärzte und Ärztinnen tun können, macht die Menschen gesünder.

Manchmal kann Abwarten die beste Medizin sein. Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer haben nun ein Buch geschrieben, das genau das zum Ziel hat. "Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker" ist der Titel. Es handelt von zu viel gutgemeintem Aktionismus in der Medizin und davon, warum es oft die klügste Entscheidung ist, nichts zu tun.

Die Autoren sind beide approbierte Ärzte. Ragnhild Schweitzer arbeitete nach ihrem Medizinstudium zuerst als Ärztin, danach als Medizinjournalistin. Ihr Ehemann Jan Schweitzer ebenfalls. Er ist Redakteur der "Zeit" im Ressort "Wissen".

Nicht ohne Rezept nach Hause

Mit übermotiviertem Handeln in der Medizin hat das Autorenpaar eigene Erfahrungen gemacht. Zuerst als Ärzte im Krankenhaus, dann als fürsorgliche Eltern, die es mit ihrem Sohn nur gut meinten, weshalb er auf dem Operationstisch landete. Damals eine Aneinanderreihung von Fehldiagnosen und unnötigen Therapien, die dem Zehnjährigen einen Leistenbruch einbrachten. "Es scheint einen unendlich optimistischen Glauben an die Errungenschaften der Medizin zu geben, der die Patienten in den OP-Saal treibt", schreiben die Autoren – und nehmen sich selbst nicht von der Kritik aus.

In ihrer Praxis als Ärzte haben sie gelernt, dass nicht nur Kollegen oft und gerne röntgen, therapieren und operieren, sondern dass viele Patienten genau das einfordern. Ohne ein verschriebenes Mittelchen und eine verordnete Therapie wollen sie nicht nach Hause geschickt werden. Nichtstun hat ein schlechtes Image, gerade in Gesundheitsfragen.

Die Botschaft mag in Zeiten von Krebs-Früherkennungsprogrammen provokant klingen. Ist sie auch. Prävention und Früherkennung sind aber unterschiedliche Dinge, die oft synonym verwendet werden. Daran zu erinnern ist den Autoren wichtig. Plus: einen kritischen Blick auf gewohntes Handeln in der Medizin einzunehmen. Stets betonen Ragnhild und Jan Schweitzer aber, dass die Empfehlung, weder Arzt noch Apotheker zu fragen, natürlich nicht für schwer kranke Menschen gelte. Akute und chronische Leiden gehören unbedingt in die Hände eines Arztes. Und sie fügen hinzu: "Wenn man unsicher ist, sollte man zum Arzt gehen. Man muss ja dann nicht alles mit sich machen lassen, sondern sollte ruhig mal nachfragen, ob und warum eine Diagnostik oder Behandlung notwendig ist."

Unterschätzte Selbstheilungskräfte

In einem Interview, kürzlich im deutschen Radio SWR2 zu hören, spricht Jan Schweitzer von den unterschätzten Selbstheilungskräften des Körpers und davon, dass 90 Prozent aller Beschwerden, mit denen Menschen zum Arzt oder zur Ärztin gehen, wieder von selbst verschwinden würden. Auch seien viele Therapien entbehrlich, und manche Untersuchungen könnten überdies schaden. "Die Medizin steckt voller unnötiger, teurer und oft sogar schädlicher diagnostischer Maßnahmen und Therapien, die Ärzte in gutem Glauben anwenden, manchmal aber einfach auch nur, um mehr Geld zu verdienen", heißt es dazu im Buch.

Diagnostische Unsicherheit auszuhalten, das ist für beide Seiten ein schwieriges Unterfangen. Es braucht Mut und Vertrauen – vor allem Vertrauen des Patienten dem Arzt gegenüber. Dazu kommt, dass Nichtstun auch juristische Konsequenzen haben kann. Die Angst vor einer allfälligen Klage gegen den behandelnden Arzt wegen Vernachlässigung der ärztlichen Sorgfaltspflicht kann dazu führen, dass zu viele Tests oder Therapien verordnet werden. Diese Form des "Schutz-Aktionismus" wird mittlerweile als "defensive Medizin" beschrieben und treibt bekanntlich vor allem in den USA seltsame Blüten.

Not-to-do-Listen für Ärzte

Die gute Nachricht: kein Trend ohne Gegenbewegung. "Watchful Waiting", also beobachtendes Abwarten, heißt eine aktuelle Gesundheitsstrategie, die ebenfalls aus Nordamerika kommt. Für Jan und Ragnhild Schweitzer ein probates Mittel zwischen Zurückhaltung und Kontrolle. Einen guten Überblick über Nutzen und Risiken von Behandlungsmethoden bietet die internationale Organisation Cochrane. Das ist ein globales, unabhängiges Netzwerk von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, Gesundheitsfachleuten, Patienten und Patientinnen mit vielen Zweigstellen in anderen Ländern, darunter auch in Österreich.

James McCormack

Eine weitere Kampagne heißt "Choosing Wisely". In Form von Not-to-do-Listen werden Empfehlungen an Ärzte formuliert und darüber informiert, welche medizinischen Verfahren oft ohne gewünschten Effekt eingesetzt werden. Mittlerweile hat die Kampagne auch Initiativen in anderen Ländern inspiriert und etwa in Deutschland die Initiative "Gemeinsam klug entscheiden" mit beeinflusst.

Fallgeschichten und Wissenschaftliches

Von A wie Arthrose bis Z wie Zahnreiningung – wann wäre es für die Gesundheit besser abzuwarten? Etwa bei Tinnitus, Warzen, Weisheitszähnen oder Bandscheibenvorfall? Im Ratgeber folgt persönlich Erlebtes auf wissenschaftlich Fundiertes. Eingang findet auch das Thema Ernährung und die Frage nach Nahrungsergänzungsmitteln, Unverträglichkeiten und Mindesthaltbarkeitsdatum.

Fazit: Weise zu entscheiden hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun, sondern mit Besonnenheit, davon sind die Autoren überzeugt. Und: Auch einmal auf die Selbstheilungskräfte des Körpers vertrauen. Der heilt, regeneriert und bezwingt so manche Krankheit ganz allein. Zu guter Letzt, woran die Autoren keine Zweifel aufkommen lassen: "Gehen Sie auf keinen Fall zu Doktor Google, also recherchieren Sie bei Beschwerden möglichst nicht zu viel und üppig im Internet, nach dem fünften Klick landen Sie bei irgendeiner furchtbaren Erkrankung, die Sie sich dann einbilden." (Christine Tragler, 29.5.2017)