Der österreichische Gesetzgeber plant offensichtlich, ein nicht näher definiertes "Wachstum" als Staatsziel an die Spitze unserer Verfassung zu stellen. Zu diesem Thema gingen in den letzten Tagen die Wogen hoch. Warum eigentlich? Wachstum sollte doch für alle gut klingen, wenn jeder darunter was anderes verstehen darf.

Die Landwirte dürfen sich über das Wachstum der Bäume freuen, die Großeltern über das Wachstum ihrer Enkelschar, Philosophen über das Wachstum an Weisheit und wir alle über das Wachstum an Lebenserwartung und Lebensqualität.

Die Probleme tauchen offensichtlich erst auf, wenn man unter Wachstum nur die Zunahme eines ganz speziellen und in vielerlei Hinsicht problematischen Indikators sieht: das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP genannt, welches für ein ganzes Land die Summe der auf Märkten gehandelten Produktionsleistung misst. Haushaltsarbeit und Ehrenamt haben darin keinen Platz, genauso wenig wie Raubbau an der Natur oder gesunder Lebensstil. Auch hat das BIP reichlich wenig mit wirklicher Lebensqualität zu tun, wie schon die Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz und Sen (zusammen mit Fitoussi 2010) deutlich aufgezeigt haben. Ist trotzdem das Wachs-tum dieses speziellen problematischen Indikators gemeint?

Zuwanderung notwendig

Als Demograf denke ich bei Wachstum zunächst an Bevölkerungswachstum. Österreichs Bevölkerung ist in den letzten Jahren gewachsen, was eine der wichtigsten Triebfedern des BIP-Wachstums war. Dieses Wachstum ist aber hauptsächlich auf Zuwanderung zurückzuführen. Ohne Zuwanderung wäre Österreich schon in den letzten Jahren geschrumpft – mit mehr Todesfällen als Geburten in einer alternden Bevölkerung. Modellrechnungen für die nächsten drei Jahrzehnte zeigen, dass ohne ständigen Zuwanderungsgewinn Österreichs Bevölkerung, anstatt von derzeit 8,7 Millionen auf über zehn Millionen zu wachsen, auf unter acht Millionen schrumpfen würde.

Bei einer schrumpfenden und gleichzeitig rasch alternden Bevölkerung kann zwar das BIP pro Person weiterwachsen, aber das gesamte BIP könnte gleichzeitig auch schrumpfen. Wenn also das Wachstum des gesamten BIP Staatsziel ist, dann kann das in Zukunft zielsicher durch Forcierung der Zuwanderung erreicht werden. Ob das der FPÖ bewusst ist, wenn sie dieser Verfassungsänderung zustimmt?

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat 2014 zusammen mit sieben weiteren europäischen Akademien eine auf dem Stand der Forschung basierende Stellungnahme zu den Gefahren und Chancen einer alternden Bevölkerung erstellt ("Mastering Demographic Change"). Darin heißt es auch klar, dass unsere wirtschaftlichen und sozialen Systeme umgestaltet werden müssen, um ein weiteres Wachstum an Lebensqualität zu erreichen, ohne gleichzeitig den Verbrauch von Rohstoffen und nichterneuerbarer Energie zu steigern.

Kognitive Ressourcen

Dies kann dadurch gelingen, dass wir gerade in einer alternden Gesellschaft mehr Gewicht auf Gesundheit und die Bildung und lebenslange Weiterentwicklung unserer geistigen (kognitiven) Ressourcen legen. Dadurch können die Menschen nicht nur länger wirtschaftlich produktiv und auch wettbewerbsfähig bei der Innovation bleiben, sondern sie können auch gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zu einer Dematerialisierung von Wohlstand und somit zur Nachhaltigkeit leisten. "Brainpower" ist die immissionsfreie Energie für unsere Zukunft. Ja, unser Hirnschmalz ist eine der wenigen Ressourcen, die sich durch Nutzung nicht verbraucht, sondern sogar bestärkt wird.

In diesem Sinne brauchen wir dringend eine Bildungsreform, die die optimale Entwicklung der kognitiven Ressourcen aller Menschen von der frühen Kindheit bis ins reife Alter fördert. Das ist die langfristig wichtigste Investition für unsere Wettbewerbsfähigkeit. Und wenn man unbedingt Wachstum als Staatsziel festschreiben will, dann bitte das Wachstum an Klugheit. (Wolfgang Lutz, 30.5.2017)