Psychische Erkrankungen werden bei Jugendlichen oft übersehen – und nicht behandelt.

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Wien – Knapp 24 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen könnten aktuell an einer psychischen Erkrankung leiden. Knapp 36 Prozent hatten laut eigener Einschätzung schon einmal eine psychische Störung. Dies geht aus der ersten österreichweiten, epidemiologischen Studie zur Häufigkeit von psychischen Erkrankungen in dieser Altersgruppe in Österreich hervor. Sie beruhte zum größten Teil auf einer Befragung.

"Die häufigsten Störungsbilder betreffen Angststörungen, gefolgt von Störungen der psychischen und neuronalen Entwicklung und depressiven Störungen", sagt Andreas Karwautz. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater an der MedUni Wien und leitete gemeinsam mit Gudrun Wagner die Studie. Im Detail zeigen Mädchen und Burschen unterschiedliche Störungsbilder. Burschen leiden fast drei Mal so häufig an Störungen der psychischen und neuronalen Entwicklung, etwa Aufmerksamkeitsdefizits-und-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), als Mädchen – und sechsmal so häufig an Verhaltensstörungen, beispielsweise Impulskontrolle. Aber: Doppelt so viele Mädchen leiden an Angststörungen und sogar zehn Mal so häufig an Essstörungen als Burschen.

Nur die Hälfte nimmt Hilfe in Anspruch

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Nicht einmal die Hälfte jener Jugendlichen, die mindestens einmal im bisherigen Leben an einer psychischen Störung erkrankt ist, hat bisher fachgerechte Hilfe bei einem Kinder- und Jugendpsychiater in Anspruch genommen. Der Besuch beim zuständigen Facharzt hängt stark vom einzelnen Krankheitsbild ab: Rund 63 Prozent der befragten Jugendlichen mit ADHS waren beim Facharzt, bei Essstörungen waren es nur knapp 20 Prozent, noch weniger bei suizidalen Verhaltensstörungen (16,7 Prozent) und nicht-suizidalem, selbstverletzenden Verhalten (10,0 Prozent).

Die Gründe dafür liegen laut Karwautz einerseits in der – immer noch bestehenden – Stigmatisierung der Erkrankungen und einer damit sehr hohen Hemmschwelle, sich einem Arzt anzuvertrauen, das unzureichende Verständnis der Bezugspersonen für psychische Erkrankungen, sodass das manifeste Problem oft gar nicht erkannt wird, aber auch die noch zu niedrige Anzahl an Kinder- und Jugendpsychiatern und der dementsprechenden Einrichtungen in Österreich.

Karwautz: "Derzeit gibt es in ganz Österreich 26 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag, und 0,04 Betten pro 1000 Einwohner. Da das Fach rezent als Mangelfach definiert wurde, besteht Hoffnung auf eine Vermehrung der Ausbildungsstellen, was eine Voraussetzung einer zukünftigen Vollversorgung ist. Diese zu erreichen, ist nur durch eine gemeinsame Anstrengung der Träger, politischer Strukturen und der Fachgesellschaften möglich".

Je früher Behandlung beginnt, desto besser Prognose

Der Kinder- und Jugendpsychiater appelliert an die Eltern, bei deutlichen Verhaltensänderungen des Kindes unbedingt die Hilfe eines Kinderpsychiaters, einer Jugendpsychiaterin in Anspruch zu nehmen: "Sollte man eine Verhaltensänderung wahrnehmen, auch, wenn sich das Kind extrem zurückzieht oder Tics entwickelt, sollte man das vom Facharzt anschauen lassen. Und ganz wichtig: Je früher die Behandlung beginnt, desto besser die Prognose für die Zukunft."

Für die Untersuchung wurden 27 Krankheitsbilder erfasst, die im DSM-5-Katalog, dem "Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders" – Klassifikationssystem der USA, beschrieben sind. Befragt wurden rund 4.000 Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren in ganz Österreich, davon fast 500 mit persönlichen Interviews. Insgesamt nahmen 340 österreichische Schulen teil. Die Studie ist eine Kooperation der MedUni Wien mit dem Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research durchgeführt und wurde im Fachjournal "European Child & Adolescent Psychiatry" veröffentlicht. (red, 1.6.2017)