Achtung, Sommerlüfte können erotische Feuer anfachen: Julia Stemberger und Marcello de Nardo in Reichenau.

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Reichenau/Rax – Das Gewittergrollen der Natur währt gerade einen Akt lang. Es ist der mittlere von drei geistreichen, von Geplapper widerhallenden aus der Feder des Wiener Arztes und Gesellschaftsdiagnostikers Arthur Schnitzler (1862-1931). Im Neuen Spielraum des Reichenauer Theaters folgen die Gedankengänge der Figuren den kunstvoll verschachtelten Wegen eines Labyrinths. Kaum kniehoch sind auch die Mäuerchen im Garten des ein wenig egoistischen Bildhauers Friedlein (Miguel Herz-Kestranek).

Im Spiel der Sommerlüfte lautet der Titel von Schnitzlers heiter-resigniertem Spätwerk (1929). In ihm besänftigt der Dichter mit routinierter Hand den Aufruhr der Seelen. Noch einmal werden die geläufigsten Themen und Motive angestimmt, ehe sie für immer verklingen. Die Menschen, so erzählt die Figur Gusti (Maria Schuchter), hängen wie Getriebene an Ballonen, die sie weit, weit aus der Wirklichkeit forttragen.

Gelockerte Mieder und Zungen

Besagte Gusti ist eine angehende Schauspielerin. Bei Onkel und Tante Friedlein weilt sie auf Sommerfrische, ehe sie nach Innsbruck in ihr erstes Engagement aufbricht. Die Besuche ihres furchtbar steifen Arzt-Verlobten (und Liebhabers) Felix (David Jakob) lässt sie wie eine notwendige Zumutung über sich ergehen. Ihr resoluter, dabei ungemein verspielter Lebensernst macht sie zum Ziel sämtlicher erotischer Begierden. Wieder, wie so häufig bei Schnitzler, ist es der hitzebedingte saisonale Urlaub vom Alltag, der mitunter die Mieder, mehr noch aber die Zungen lockert.

Wie Murmeln auf der Kugelbahn rollen die Reichenauer Schauspieler durch den Irrgarten der Lüste (Bühne: Peter Loidolt). Mit flackernden Zügen kämpft Josefa Friedlein (Julia Stemberger) um die Aufmerksamkeit ihres nach Wien pendelnden Gemahls.

Die Not eines blutjungen Draufgängers

Regisseurin Beverly Blankenship liegt goldrichtig. Sie unterschlägt nicht die albernen Anteile dieses Sommertagtraums. Da werden ungeschlachte Jünglinge mit Hang zur permanenten Umlanderkundung (Tobias Reinthaller) von der eigenen Cousine in die Liebe eingewiesen. Das Fin de Siècle war schon immer eine praktisch denkende Epoche. In Reinthallers Darstellung blitzt aber auch die Not eines blutjungen Draufgängers auf, der die Überschüsse an Witz, an Lebensenergie nicht sinnvoll zu investieren versteht.

Die verhärmte Hausfrau (Stemberger) muss derweil die Anfechtung in Gestalt eines südländisch aussehenden Kaplans (Marcello de Nardo) abwehren. Josefa selbst eifert ihrem Bildhauergatten nach, indem sie an einer Tonfigur modelliert – und dem Golem schließlich das Messer in den Leib sticht. Mit einem Bild verdeutlicht Blankenship die Misere einer Gesellschaft, die fünfzig Prozent ihrer Mitglieder unter Kuratel stellt.

Sätze und Sentenzen

Schnitzlers Figuren ergehen sich in Gemeinplätzen – und dringen doch mit ein paar wenigen Sätzen und Sentenzen in bestürzendes Neuland vor. Wie Stemberger und de Nardo (die Hausfrau auf dem Sprung in die Sünde, der zweifelnde Priester auf dem Weg in die Hölle) einen Kuss fast miteinander tauschen, um einander dann doch zu verfehlen: Solcher Augenblicke wegen sieht man der Aufführung auch die krachledernen Momente nach. "Dienstmägde" müssen auch nicht anno 1890 oder 1913 sangesselige Trampel sein. Und mitunter enden einzelne Szenen in Konvention.

In den hellhörigsten Momenten hört man aber nicht nur die Vögel singen. Es scheint der Wahnsinn sich hinter dem Gewitter zu verbergen. Auf Stembergers Antlitz glaubt man die kommenden Erschütterungen zu sehen; auch Herz-Kestranek belauert die nachrückende Jugend. Als betrachte er bereits das Kanonenfutter des bevorstehenden Krieges. Ein akklamiertes Plädoyer für ein viel zu selten gespieltes Stück. (Ronald Pohl, 4.7.2017)