"Es ist das nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe." Für den 21 Jahre jungen Elias Canetti ist der 15. Juli 1927 ein Schlüsselerlebnis. Der Autor ist einer von vielen, die an jenem Tag in Wien auf die Straße gehen. In seinen Lebenserinnerungen "Die Fackel im Ohr" schreibt er: "Seither weiß ich ganz genau, ich müsste kein Wort darüber lesen, wie es beim Sturm auf die Bastille zuging. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm. (...) Das Anzünden des Justizpalastes hatte ich selbst nicht gesehen, doch erfuhr ich davon, bevor ich Flammen sah, durch die Änderung im Ton der Masse. Man rief einander zu, was geschehen war, ich verstand es erst nicht, es klang freundlich, nicht gellend, es klang befreit. Das Feuer war der Zusammenhalt. Man fühlte das Feuer, seine Präsenz war überwältigend, auch dort, wo man es nicht sah, hatte man's im Kopf, seine Anziehung und die der Masse waren eins."

"Das Feuer war der Zusammenhalt."

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Rund um den Justizpalast entluden sich vor 90 Jahren jene Spannungen, die Wien und Österreich in den 1920er- und 1930er-Jahren zu einem Ort der politischen Gewalt machten. Sozialdemokraten und Konservative setzten damals neben den zivilen Parteistrukturen auch auf paramilitärische Fußtruppen, dem Republikanischen Schutzbund und den Heimwehren.

Die Ereigniskette, die zum 15. Juli führte, begann ein halbes Jahr davor: Am 30. Jänner kam es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Schutzbund und konservativen Frontkämpfern im burgenländischen Schattendorf, drei Frontkämpfer schossen aus einem Gasthaus auf die Schutzbündler, der sechsjährige Josef Grössing und der Kriegsinvalide Matthias Csmarits wurden dabei getötet. Am 14. Juli wurden die drei Angeklagten durch ein Geschworenengericht freigesprochen, die damals notwendige Zweidrittelmehrheit wurde verfehlt. Am Tag darauf gingen die Arbeiter auf die Straße, wie Medienberichte aus der Zeit zeigen, entglitten Polizei und Schutzbund die Demonstration. Aus Wut wurde Aggression, wurde Gewalt. Wachzimmer, Redaktionen und der Justizpalast brannten. Die Polizei griff hart durch und schoss in die Menge. 89 Tote und hunderte Verletzte waren waren am Ende zu beklagen.

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Die "Reichspost" titelt: "Ein klares Urteil."
Die "Neue Freie Presse" plädiert für die "innere Abrüstung".

Das sozialdemokratische Parteiorgan "Arbeiter-Zeitung" titelte am 15. Juli empört: "Die Arbeitermörder freigesprochen", die konservativ-reaktionäre "Reichspost" sprach von einem "klaren Urteil". Die "Neue Freie Presse" trat "für die innere Abrüstung" ein: "Die Schattendorfer Schüsse müssen die dringende Mahnung bilden zur Wiederkehr der Besinnung." Ein Aufruf, der ins Leere lief. Das Vertrauen in die Justiz war in der Arbeiterschaft schon vor der Gerichtsspruch erschüttert.

Die "Arbeiter-Zeitung" am 15. Juli.

Das Urteil steht in einer Reihe umstrittener Gerichtssprüche jener Zeit. "Schattendorf ist kein Einzelfall. Es hat mehr als zwanzig ähnliche Zusammenstöße gegeben", sagt der Zeithistoriker Gerhard Botz im STANDARD-Gespräch. "Die Einseitigkeit der Justiz und die Enttäuschung der sozialdemokratischen Anhänger führten zu einer verstärkten Ablehnung der Urteile."

"Aus einer Aussaat von Unrecht (...) kann nur schweres Unheil entstehen."

Dieses Gefühl der ungerechten Justiz befeuerte auch Friedrich Austerlitz, damals Chefredakteur der "Arbeiter-Zeitung", in seinem Leitartikel vom 15. Juli: "Denn die Wahrheit, die aus dieser Freisprechung, die die ganze Rechtsprechung schändet, so erschütternd und aufreizend hervorgeht, ist die, daß Hakenkreuzler und Frontkämpfer, wenn sie auf Arbeiter schießen, wenn sie Sozialdemokraten ermorden, der Freisprechung anscheinend immer gewiß sein können. (...) Die bürgerliche Welt warnt immerzu vor dem Bürgerkrieg; aber ist diese glatte, diese aufreizende Freisprechung von Menschen, die Arbeiter getötet haben, weil sie Arbeiter getötet haben, nicht schon selbst der Bürgerkrieg? Wir warnen Sie alle, denn aus einer Aussaat von Unrecht, wie es gestern geschehen ist, kann nur schweres Unheil entstehen."

Der Artikel traf das Gefühl der Arbeiterschaft. Canetti schreibt: "Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst, was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste."

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Arbeiter demonstrieren auf der Ringstraße am 15. Juli 1927.
Foto: Hilscher, Albert / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

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8.00 Uhr: In einigen Bezirken wird die Arbeit eingestellt, die Straßenbahnen stoppen, der öffentliche Nahverkehr kommt zwischen 8.00 und 9.00 Uhr morgens völlig zum erliegen, Telefon- und Stromleitungen werden unterbrochen. "In geschlossenen Zügen marschierten die städtischen Arbeiter und Angestellten über den Ring zum Parlament, von allen Seiten kam die Arbeiterschaft der Betriebe in die Innere Stadt. Es wäre zu einer gewaltigen, eindrucksvollen und unblutigen Kundgebung gekommen, wenn man die Menge nicht provoziert, wenn man nicht berittene Polizei in sie hineingejagt hätte", so die "Arbeiter-Zeitung". Laut "Reichspost", sie spricht von "Schreckenstagen", haben sich "bald nach 8 Uhr (...) Tausende von Demonstranten eingefunden, die sich namentlich auf dem Rathausplatz und Schmerlingplatz massierten".

Die Demonstranten trafen über die Radialstraßen am Ring ein, im Gegensatz zu früheren Kundgebungen verzichteten die Sozialdemokraten auf die Mobilisierung des Schutzbundes. "Niemand hat damit gerechnet, dass es explodiert. Auch Schutzbund-Chef Julius Deutsch nicht", sagt Botz.

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Die Polizei ging mit Reitern gegen die Demonstranten vor.
Foto: ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

9.30 Uhr: Die Demonstranten versuchen zunächst, in die Universität und das Parlament zu gelangen. Der ursprünglich liberale "Morgen" berichtet am 18. Juli 1927: "Während auf der Rampe der Universität Gasarbeiter mit Studenten zu plänkeln anfingen, stürzte sich knapp nach halb 10 Uhr an der Ecke der Reichsratsstraße und des Schmerlingplatzes ein Haufen Menschen auf die dort liegenden Bestandteile eines Gerüstes, um daraus Barrikaden gegen die berittene Wache zu errichten." Noch war die Lage jedoch unter Kontrolle, der Justizpalast nicht im Fokus der Demonstranten. Einige wenige Polizisten schützten den dortigen Eingang.

Botz hat in seinen Arbeiten Fotos anhand des Schattenwurfes analysiert, durch diese Methode lassen sich die Vorgänge an jenem Tag bis auf wenige Minuten genau datieren. Die Zusammensetzung der Menschenmenge verändert sich stetig. Botz: "Zuerst marschieren gewerkschaftliche Organisationen auf, dann verändert sich die Masse, sie wird zu einem Abbild der Wiener Sozialdemokratie, es kommen auch Bürgerliche dazu, erst später wird es aggressiv, und es kommt zu einer Radikalisierung."

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10.00 Uhr: "Der Schmerlingplatz war dicht von Menschen gefüllt. So verstärkt und durch ein wüstes Geheul angefeuert ging die Masse mit Gewalt gegen die vor dem Justizpalais aufgestellte schwächere Abteilung der Sicherheitswache vor. Die Polizei hatte gerade an dieser Stelle nicht mit einem Ansturm gerechnet, weil der Justizpalast für ein neutrales Gebäude gehalten wurde und man nicht voraussetzen konnte, daß gerade dieses Gebäude das Ziel der Leidenschaften einer tobsüchtigen Masse werden könnte. Auf der Rampe standen nur acht bis zehn Wachbeamte, die zunächst mit Steinen und anderen Wurfgeschossen hageldicht beworfen und bald darauf auch aus Revolvern beschossen wurden." ("Reichspost", 18. Juli 1927)

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Demonstranten vor dem leicht brennenden Justizpalast.
Foto: Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com

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Die Polizei verstärkt ihre Präsenz am Schmerlingplatz, berittene Polizisten stellten sich der Menge entgegen. Die Polizei versucht, den Platz vor dem Justizpalast freizuhalten. Die Demonstranten wiederum bewaffnen sich selbst mit umliegenden Baumaterialien und Gerüstteilen. In den Straßen werden Barrikaden errichtet. Die Polizei ist alarmiert, und ihr Präsident Johannes Schober versucht, Gewehre zu bekommen – weit vor dem Justizpalastbrand.

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11.00 Uhr: "Die Menschenwogen, die immer aufs neue gegen den Kordon der Wache anbrandeten und anfänglich zurückgeschlagen worden waren, wurden immer stärker, mächtiger und wilder. Die Wache wurde zurückgedrängt und abberufen, um mit Militärgewehren ausgerüstet zu werden. Fast gleichzeitig erfolgten dann Stürme gegen das nahegelegene Wachzimmer in der Lichtenfelsgasse, das in Brand gesteckt wurde – so wie der Justizpalast, der alsbald zum Schauplatz wildester Szenen wurde." (Illustrierte Kronen Zeitung, 18. Juli 1927)

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Wochenschaubericht der British Pathé
British Pathé

12.00 Uhr: Demonstranten dringen gegen Mittag in den Justizpalast ein. Sie werfen Akten und Möbel aus dem Fenster. "Die Akten verbrennen!", lautet eine Parole. Die "Neue Freie Presse" schreibt: "Als die Akten immer mehr wurden, die auf die Straße flogen, häufte man sie zusammen und steckte diesen Justizscheiterhaufen in Brand. (...) Immer neue Nahrung wurde dem Scheiterhaufen geboten. (...) Sessel und Tische, Kästen, Bilder, Spiegel, ja Schreibmaschinen wurden aus den Fenstern geschleudert. Ein wahrer Taumel erfaßte die Menge. (...) Man begann im Hause selbst Feuer zu legen und erinnerte sich bei dieser Gelegenheit der eingesperrten Wachleute, die man ausräuchern wollte. Eine mächtige Gerüstleiter wurde herbeigeschleppt und gegen den zweiten Stock aufgestellt. Junge Burschen kletterten daran in die Höhe und legten in den einzelnen Zimmern Brände."

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12.28 Uhr: Bei der Feuerwehr geht eine Meldung über einen Brand im Justizpalast ein. Als die Löschfahrzeuge vorfahren, kann der Brand aber nur schleppend bekämpft werden. Demonstranten behindern die Löscharbeiten, Schläuche werden zerschnitten oder aus dem Hydranten gezogen. Es brennt auch in einem Wachzimmer in der Lichtenfelsgasse und in der "Reichspost"-Redaktion.

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"Zwischen zwei und fünf Uhr währet diese Schießerei."

14.00 Uhr: Polizeipräsident Schober lässt die Polizisten mit Mannlicher-Gewehren ausrüsten, die er vom Bundesheer bekommt. Der Versuch der Sozialdemokraten, die Menge zur beruhigen, scheitert. "Die Polizei, in Schwarmlinie ausgelöst, kam von zwei Seiten angerückt. Eine Gruppe durch die Bartensteingasse, die andere von der Bellaria aus. Offiziere traten vor, um die Menge zum gütlichen Verlassen des Platzes zu bewegen. Vergebens. Sie werden sofort beschimpft und beschossen. Kniend und kriechend, von Häusereck zu Häuservorsprung, von Baum zu Baum eilend und Deckung suchend, kam die Wache heran, wie in jüngst vergangenen Kriegstagen, und gegen 2 Uhr wurden die ersten Salven gegen die Menge abgefeuert. Die Schüsse und ihr Widerhall riefen Entsetzen hervor. Frauen und auch Kinder schrien. Die Menge rannte wie besessen davon. Man stieß und drängte sich, in die Haustore und in die wenigen noch geöffneten Geschäftslokale flüchteten die Massen. Die Polizei schoß weiter. Da die Schüsse bald hier, bald dort fielen, setzte eine gräßliche Panik ein. Niemand wußte, wohin er fliehen solle. In den Pausen zwischen den Salven wurden die Opfer in das Parlament geschleppt. Viele Tote und zahlreiche Schwerverwundete. (...) Drei Stunden lang. Zwischen zwei und fünf Uhr währet diese Schießerei." ("Neue Freie Presse", 18. Juli 1927)

Der brennende Justizpalast am Nachmittag.

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18.00 Uhr: Trotz Löschversuchen brennt der Justizpalast weiter. Um 18.00 Uhr "glich das ganze Dach des Gebäudes bereits einer mächtigen Flammensäule und die Hälfte des Daches stand nicht mehr. Mit einem Ruck setzt sich die Hauptkuppel des Daches in Brand und lohte als imposante Feuergarbe gegen den Himmel", schreibt die "Neue Freie Presse". Eine halbe Stunde später stürzte die Kuppel ein, das Feuer dauerte bis zum Vormittag des 16. Juli, einem Samstag, an.

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Der Juli-Unruhen waren kein singuläres Ereignis, sondern – so Botz – nur "ein Glied in einer langen Kette politischer Gewaltfälle, das nur durch seine ungemein hohe Opferzahl über die jährlichen Opferbilanzen der Zeit vor dem doppelten Bürgerkrieg des Jahres 1934 hinausragt". Botz, der im Herbst ein Buch über den Justizpalastbrand veröffentlichen wird, warnt davor, den Tag als alles bestimmende Determinante anzusehen: "Allein vom Justizpalastbrand her ist nicht der Untergang der Demokratie erklärbar."

Die Chancen der Republik verringerten sich in den nächsten Jahren, aber nicht unentrinnbar, obwohl es in den folgenden Monaten und Jahren zu einem Anwachsen der Heimwehr und einer latenten Gewaltsituation kam. Erst das Aufkommen des Nationalsozialismus machte laut Botz alles ab 1932 katastrophal.

Begräbnis der Toten am Zentralfriedhof.
British Pathé

Am Abend des 15. Juli sind nicht nur 89 Menschen, 84 Demonstranten und fünf Polizisten tot und hunderte Menschen verletzt. Die Erste Republik befindet sich auch in einem Schockzustand. Streiks und weitere Aufstände folgen. Die gesellschaftliche Spaltung manifestiert sich, nicht Einigung, sondern Trennung dominiert die Politik.

Canetti schreibt über die Menschen an diesem Tag: "Die Salven der Polizei peitschten sie nicht auseinander, sie peitschten sie zusammen." (Sebastian Pumberger, 15.7.2017)