Für ein erfülltes Sexleben braucht es nicht unbedingt einen Orgasmus.

Foto: iStock

Sandra Gathmann ist systemische Psycho- und Sexualtherapeutin und Co-Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Sexualwissenschaften (ÖGS).

Foto: Sandra Gathmann

STANDARD: Warum fällt es Frauen tendenziell schwerer als Männern, beim Sex einen Orgasmus zu bekommen?

Gathmann: So groß sind die Unterschiede gar nicht. Beim Sex mit sich selbst erleben Männer und Frauen den Orgasmus tatsächlich nahezu gleich häufig. Sie haben eigene "Rituale" und wissen, was sie brauchen – sei es eine bestimmte Stellung, ein Hilfsmittel oder die Fantasie. Anders ist das beim Sex mit dem Partner. Mit ihm kommt nicht mal jede dritte Frau zum Orgasmus – zumindest, wenn sie allein vaginal befriedigt wird.

STANDARD: Also reicht Vaginalsex nicht, damit Frauen einen Orgasmus erleben?

Gathmann: Bei Frauen kommt es vor allem auf die Stimulation der Klitoris und der Vulva, also des äußerlich sichtbaren Geschlechts, an. Wie der Penis ist auch die Klitoris ein Schwellkörper. Anders als viele denken, ist sie jedoch viel größer als diese erbsengroße Perle, die wir von außen sehen. Ihre Schenkel verlaufen im Inneren des Körpers in Form eines Y unter den Scheidenlippen und sind auf jeder Seite gut zehn Zentimeter lang. Beim einfachen Vaginalverkehr, bei dem der Mann mit dem Penis in die Scheide eindringt, wird die Klitoris oft zu wenig oder nur indirekt mitstimuliert – es sei denn, die Klitoriseichel liegt anatomisch nah an der Scheidenöffnung.

STANDARD: Warum initiieren Frauen keine andere Stellung oder helfen selbst mit den Fingern nach?

Gathmann: Um ihrem Partner zu kommunizieren, was ihnen gefällt, müssen Frauen ihren Körper gut kennen. Viele wissen jedoch gar nicht, was sie sexuell anspricht, oder schämen sich für das, was sie erregt. Ellen Laan, eine Sexualforscherin der Universität Amsterdam, hat hierzu ein spannendes Experiment gemacht. Sie ließ Männer und Frauen verschiedene Pornofilme schauen und maß dabei ihre körperliche Erregung. Anschließend fragte sie die Probanden, welche Filmpassagen sie sexuell ansprechend gefunden hätten. Bei den Männern stimmten die Antworten, also die subjektive Wahrnehmung der Erregung, sehr gut mit ihren körperlichen Reaktionen überein. Bei Frauen zeigte sich hingegen eine große Diskrepanz: Viele gaben an, die Filme wenig bis gar nicht erregend gefunden zu haben – körperlich waren sie es jedoch durchaus.

STANDARD: Werte- und Lustsystem sind bei Frauen also stark voneinander getrennt?

Gathmann: Ja. Wenn das Wertesystem von Frauen bestimmte sexuelle Praktiken ablehnt, etwa Analverkehr, empfinden sie subjektiv auch keine Erregung: Damit ist nicht, was nicht sein soll.

STANDARD: Woran liegt das?

Gathmann: Männer und Frauen werden bis heute unterschiedlich sexualisiert. Nehmen wir das Beispiel Selbstbefriedigung. Für Burschen ist sie in der Regel positiv besetzt – viele tauschen sich mit Freunden über sie aus, manche prahlen sogar damit. Für Mädchen bleibt ihr Geschlecht oft "das da unten" oder wird mit irgendwelchen Kosenamen verniedlicht und damit entsexualisiert. Auch Selbstbefriedigung entdecken sie meist deutlich später. Den ersten Kontakt mit ihrem Geschlecht machen viele tatsächlich durch ihre Regelblutung und nicht durch selbstbewusste, genussvolle Selbsterkundung. In Sachen Orgasmus haben Männer außerdem einen anatomischen Vorteil.

STANDARD: Der da wäre?

Gathmann: Im Gegensatz zur Frau können sie ihre Erregung visuell beobachten – wird der Penis steif, gibt ihnen das ein beobachtbares Feedback. Auch der Orgasmus ist als Samenerguss sichtbar. Frauen haben diesen visuellen Abgleich weniger – das Anschwellen und Feuchtwerden ihrer Genitalien können sie nur schwer beobachten.

STANDARD: Ist guter Sex lernbar?

Gathmann: Auf jeden Fall. Jeder kann lernen, Erregung besser und damit auch intensiver wahrzunehmen. Das fängt schon beim Gehirn an: Damit es Berührungen am Geschlecht als sexuelle Erregung erkennt, braucht es Zeit. Mit jeder Berührung, mit jeder Stimulation wird die "neuronale Autobahn" zwischen Gehirn und Nerven breiter. Manche Orgasmen ergeben sich spontan, durch den sogenannten Erregungsreflex. In den meisten Fällen müssen Frauen jedoch erstmal herausfinden, was sie erregt und wie sie zum Orgasmus kommen – mit sich, aber auch mit anderen. Wer guten Sex haben will, muss sich daher Zeit nehmen und manchmal auch etwas in seine Sexualität investieren.

STANDARD: Wird in unserer Gesellschaft zu viel über den weiblichen Orgasmus geredet?

Gathmann: Das Problem ist nicht, dass wir zu viel über ihn reden, sondern wie. Wird über den weiblichen Orgasmus oder Sex im Allgemeinen gesprochen, geht es in letzter Zeit viel um Selbstoptimierung: "Wie kann ich häufiger kommen?", "Wie erlebe ich meinen Orgasmus intensiver?" – Sex ist jedoch kein Leistungssport. Auch ich habe vorhin den Begriff "investieren" verwendet. Wichtig ist die innere Motivation – also nicht "sollen", sondern "wollen".

STANDARD: Frauen erleben momentan also genau das, was Männer seit Jahrzehnten durchmachen – den Druck, immer zu können?

Gathmann: Ja, die sexuellen Imperative gleichen sich tatsächlich an. Auch in Medizin, Psychotherapie und Forschung nimmt die prosexuelle Haltung zu. Es wird propagiert, wie gesundheitsfördernd, glückbringend und sinnstiftend Sex, aber auch der Orgasmus sei. Themen wie Lust und Genuss geraten bei all den Superlativen oft aus dem Blickwinkel. Tatsächlich empfinden viele Frauen Sexualität mit sich und ihren Partnern oder Partnerinnen als sehr befriedigend – auch ohne Orgasmus.

STANDARD: Was ist Ihre wichtigste Message?

Gathmann: Ein Orgasmus ist nur ein Orgasmus und damit nur ein kleiner Teil davon, was Sexualität ausmacht. Wenn eine Frau darunter leidet, den Höhepunkt nicht zu erleben, besteht die Möglichkeit, dies zu ändern. Ist sie hingegen mit ihrem Sexleben zufrieden, braucht es auch keine Legitimation durch einen Orgasmus, egal, ob sie ihn häufig erlebt oder gar nicht. (Stella Marie Hombach, 23.7.2017)