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Knausgård: "Im Schreiben entsteht für mich Gegenwart. Ich bin verschlossen, ich beobachte nicht gut, im Schreiben entsteht die Welt für mich erst so richtig."

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STANDARD: Es gibt eigentlich nur eine denkbare Frage nach dem Ende Ihrer umfangreichen autobiografischen Erzählung "Mein Kampf". Wie geht es der Familie?

Knausgård: Der Familie? Gut.

STANDARD: Aber sind Sie denn überhaupt noch eine Familie?

Knausgård: Wir sind eine Familie. Aber meine Frau Linda und ich, wir haben uns getrennt. Wir sind geschieden. Wir haben die Kinder immer jeweils eine Woche. Es funktioniert.

STANDARD: Der abschließende sechste Band "Kämpfen" endet mit einer Widmung an die Familie, an Ihre zweite Frau Linda und die drei Kinder. "Ich liebe euch", schreiben Sie da. Hat dieses Ende durch die Trennung an Wert verloren?

Knausgård: Nein, glaube ich nicht. Man schreibt zu einer bestimmten Zeit, das lässt man dann hinter sich.

STANDARD: Was haben die sechs Jahre seit dem Erscheinen des letzten Bandes in Norwegen mit Ihnen gemacht? Was hat der weltweite Erfolg mit Ihnen gemacht?

Knausgård: Diese Zeit war überwältigend, klarer Fall, aber auf eine sehr positive Weise. Alle Türen, die vorher zu waren, sind jetzt offen. Ich kuratiere eine Munch-Ausstellung. Ich schreibe für Magazine und Zeitungen, alles wird gedruckt. Ich habe Geld, ich kann schreiben, ohne mich sorgen zu müssen. Es gibt auch ein Element von Korruption im Erfolg, aber das ist in meinem Kopf. Ich stelle mir Fragen, die ich mir nicht stellen sollte. Was mache ich als Nächstes? Soll ich das machen, was die Leute erwarten? Wird es vor dem bisherigen Schreiben bestehen? Ich führe zwei Leben: eines daheim mit den Kindern und beim Schreiben, das andere hier, wenn ich Interviews gebe oder Lesungen mache.

STANDARD: Kämpfen endet nicht nur mit der Widmung an die Familie, um die es ja wirklich auf eine sehr persönliche Weise geht, sondern auch mit einem Abschied vom Schreiben. Sie wollten es endlich genießen, schreiben Sie, "dass ich kein Schriftsteller mehr bin". War das ironisch gemeint? Oder hätten Sie das besser nicht geschrieben? Denn wenn Sie etwas mehr denn je sind, dann Schriftsteller.

Knausgård: Das war kein Fehler. Dieser Satz war das Einzige, was ich von Beginn an wusste, das war ein unumgänglicher Ausgang. Damals war es wahr. Ich wollte aufhören.

STANDARD: Was wollten Sie stattdessen machen?

Knausgård: Essays, Drehbücher, Journalismus.

STANDARD: Das ist immerhin eine Hintertür.

Knausgård: Natürlich wollte ich immer noch ein Autor sein. Ich begann ein Drehbuch für einen Film zu schreiben. Dann redete mir mein Verleger zu, irgendwie an Mein Kampf anzuschließen. Was ich damals meinte: Ich wollte ein Ende dieser Persona, dieses Autors, der so ehrgeizig war. Wenn ich den los bin, dachte ich, dann wird alles anders. Wurde es dann aber nicht.

STANDARD: Mussten Sie diesen Karl-Ove aus "Mein Kampf" loswerden, um nun weniger Persona zu sein? Mehr Sie selbst?

Knausgård: Mein Schreiben hat sich verändert. Die letzten Bücher sind weniger von Angst getrieben, sie enthalten viel mehr Freude.

STANDARD: Der Erfolg, der literarische wie der kommerzielle, hat Sie befreit?

Knausgård: Jetzt schreibe ich freier. Davor gab es manchmal vier, fünf Jahre, in denen ich gar nicht schreiben konnte.

STANDARD: Der riesige Umfang von "Mein Kampf" hat also auch etwas von Kompensation? Sie haben damit eine Schreibblockade überwunden, und zwar gründlich?

Knausgård: Ja. Ich habe nun meine Erwartungen reduziert. Ich denke jetzt nicht mehr dauernd darüber nach, ob es gut oder schlecht ist, was ich schreibe.

STANDARD: Man könnte meinen, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, wie Sie schreiben, sondern wie Sie sich erinnern. Die Bücher, in denen Sie die Familie Ihrer Herkunft allmählich hinter sich lassen und bei einer neuen Familie ankommen, sind immer wieder von einer detaillierten Dichte, die ungeheuerlich wirkt. Kann man mit so einer intensiven Erinnerung überhaupt leben?

Knausgård: Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Und ich beobachte nicht sehr gut.

STANDARD: Wirklich?

Knausgård: Wirklich. Aber es kommt, wenn ich schreibe.

STANDARD: Was kommt?

Knausgård: Das ist eine interessante Frage, denn es ist dieselbe Quelle wie die, aus der ich zuvor Fiktion geschrieben habe. Wir erinnern uns an viel mehr, als wir uns bewusst machen. Schreiben ist eine Möglichkeit, darauf zu kommen. Das Gleiche erleben wir übrigens beim Lesen. Vor allem beim Lesen von Proust. Schreiben, Lesen, Erinnern, Erfinden, das ist wie ein Feld, in das man eintreten kann. Interessanterweise streiten die Leute sofort, wenn es um etwas aus der jüngeren Vergangenheit geht, sobald es aber um die Kindheit geht, stimmen alle zu.

STANDARD: Es gibt wohl so etwas wie eine gemeinsame Erinnerung von Generationen.

Knausgård: 16 Jahre alt sein, das ist überall gleich.

STANDARD: Da Sie Proust erwähnen, um den man tatsächlich nicht herumkommt: In der Recherche geht es im Grunde darum, dass der Autor und die Figur schließlich zueinanderfinden. Bei Ihnen ist es umgekehrt: Sie machen am Ende mit sich als Schriftsteller endlich Schluss.

Knausgård: Interessant. So habe ich mir das nie überlegt.

STANDARD: Wie halten Sie den Vergleich mit Proust aus? Er liegt zweifellos nahe, zugleich fragen wir uns, ob unsere eigene Epoche zu einer ähnlichen Leistung überhaupt in der Lage sein kann.

Knausgård: Der Vergleich ist mir peinlich. Es gibt so viele Unterschiede in Hinsicht auf Qualität und Umfang und Weisheit. Proust ist aber auf jeden Fall unter meinen Top Five ...

STANDARD: Dann müssten wir aber auch schnell die anderen vier ...

Knausgård: Okay. Die Alten lassen wir mal. Tolstoj. Flaubert, vermutlich. Turgenjew. Russen und Franzosen. Um Joyce kommt man nicht so recht herum.

STANDARD: Proust schrieb auf Französisch, Sie schreiben auf Norwegisch. Es gibt in der Literatur auch das Phänomen der kleinen Sprachen. Man hat es als Norweger sicher schwerer, zu den definitiven Projekten der Moderne gezählt zu werden. Ich habe gelesen, Sie waren einmal Beirat, als es darum ging, eine norwegische Bibelübersetzung zu erstellen. Was hat Ihnen das über Ihre Sprache klargemacht?

Knausgård: Ich habe Lesen gelernt. Wir mussten ganz langsam lesen. Satz für Satz haben wir auf jedes Detail geschaut. Normal lese ich schnell. Nun hat sich mein Lesen verändert, ich weiß jetzt, wie man es macht.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen, was Ihnen im Speziellen klargeworden ist?

Knausgård: Ich war für die ersten fünf Bücher im Alten Testament zuständig. Nicht allein, aber ich wurde eben auch konsultiert. Ich kann ja nicht Hebräisch, ich sollte für ein gutes Norwegisch sorgen. Da musste man an so viel denken. Die alte Übersetzung war zu abstrakt, zu erklärend, wir wollten näher zurück an die Quelle. Ich war dann einer, der besonders radikal sein wollte, der ganz auf die Konkretheit der Bibel setzen wollte: nur Dinge und Aktionen, keine Abstraktionen, es geht nur um Körper in der Welt. Der Sprachgraben ist immens. Ich hatte auch zwei Bibelprogramme, die alle Übersetzungen in allen möglichen Sprachen anboten. Das half mir, einen Aufsatz über den ersten Absatz der Bibel in verschiedenen Übersetzungen zu schreiben. Sie würden staunen, wie viel Ideologie da drinsteckt.

STANDARD: Sie sind selbst aber nicht religiös?

Knausgård: Nein, bin ich nicht, aber aus existenziellen Gründen zieht es mich da hin. Aber ich bin kein Christ.

STANDARD: Es gibt ja verschiedene Begriffe von Gott. Einer spielt in Ihre Bücher implizit hinein, es ist der furchteinflößende Vatergott, den Franz Kafka oder Ingmar Bergman ganz konkret in der Familie erlebt haben. Es gibt aber auch noch einen anderen Gott, einen, von dem Jesus gesagt hat, dass er jedes einzelne Haar zählen kann. Einen Gott der Details, wenn man so will. Sind Sie als Schriftsteller nicht so ein Gott im Universum des Textes?

Knausgård: Vielleicht. Ich versuche aber eher etwas zu zerstören, und zwar die Weise, wie wir die Welt sehen. Ich zweifle alles an.

STANDARD: Tatsächlich? Mir schien, Sie wollten etwas retten.

Knausgård: Ich will, dass wir die Welt sehen. Ich will sie heraufbeschwören. Wir sitzen hier an einem Tisch, es geht darum, dessen Präsenz zu sehen.

STANDARD: Präsenz ist das, was Schriftsteller nie einholen können. Sie leben immer in der Vergangenheit.

Knausgård: Das ist der Grund, warum ich schreibe. Im Schreiben entsteht für mich Gegenwart. Ich bin sehr verschlossen, ich beobachte nicht gut, im Schreiben entsteht die Welt für mich eigentlich erst so richtig. Deswegen lese ich auch andere Bücher, deswegen mag ich Kunst. Kunst und Literatur sind voll von entdeckenswerten Verbindungen, in den Medien werden immer dieselben Verbindungen hergestellt. Die Kunst sucht andere Verbindungen.

STANDARD: Man ist als Schriftsteller aber doch immer zu spät, das ist ein Fluch und ein Privileg zugleich.

Knausgård: Ja, aber man lebt da noch einmal. Ich habe ein Buch über das Gehirn gelesen, das mir viel weitergeholfen hat. Der Autor schreibt darüber, dass das Gehirn selbst ständig einen bestimmten "delay" schafft, eine Verzögerung. Hören, Sehen, Denken treffen nie gleichzeitig ein.

STANDARD: Eine Verzögerung, die Sie in "Mein Kampf" episch werden ließen. Wussten Sie schon, als Sie den Titel wählten, dass Sie im sechsten Teil eine sehr lange Passage über Hitlers "Mein Kampf" einbauen würden? Oder fühlten Sie sich gegen Ende hin einfach verpflichtet, das noch zu tun?

Knausgård: Diese Verpflichtung habe ich schon gespürt. Ich musste also das Buch lesen, und als ich das tat, wusste ich, dass ich etwas darüber schreiben musste. Ich wusste aber nicht, wie. Hitler schreibt in Mein Kampf ja auch – wie ich über mich – über sich und seine Vergangenheit. Und es geht sehr stark darum, was er sich wünscht, wie er sich alles zurechtlegt. Mein Ehrgeiz wuchs, das irgendwie zu verstehen. Dieser wilde und schreckliche Hass auf die Juden, woher kommt der? Diese ganzen Ängste, Frauen, Krankheiten, dieses Verlangen nach Reinheit. Also schrieb ich das alles nieder. Ich folgte meiner Intuition, jetzt macht es irgendwie Sinn für mich.

STANDARD: Der Titel "Mein Kampf", auf den die deutsche Übersetzung ja verzichtet hat, erscheint Ihnen immer noch gut gewählt?

Knausgård: Dieser Titel war auch auf Norwegisch eine Provokation. Ich sprach mit einem Freund über das Buch, und er sagte zu mir: Das ist dein Titel. Ich wusste, er hat recht. Er trifft absolut zu. Für Hitler war es ein Kampf in einem ganz anderen Sinn. An dieser ironischen Trennung war mir gelegen. Und dann war es ein Gestus der Herausforderung: Schaut her, mir ist es ganz egal, was ihr denkt!

STANDARD: Jetzt, da auch die deutschsprachigen Leser das Ende vor sich haben: Was ist denn noch einmal genau der Kampf?

Knausgård: Wir haben Eltern. Wir bekommen Kinder.

STANDARD: Also das Leben selbst.

Knausgård: Das Leben selbst.

STANDARD: Das Leben als Kampf mit sich selbst. Gibt es denn auch etwas, das über Ihre persönliche Geschichte hinausgeht? Etwas Größeres als Sie selbst, für das Sie kämpfen würden?

Knausgård: Vieles. Es gibt ein verrücktes Vorhaben in Norwegen. Man will Ölbohrungen im Norden vornehmen, in einer sehr fragilen Region. Dabei brauchen wir wirklich nicht noch mehr Öl, wenn man an das Weltklima denkt. Es gibt Demonstrationen gegen diese Erschließungen. Ich versuche dabei, meine Bekanntheit nutzbar zu machen, und spreche mit wichtigen Leuten. Die Umwelt ist generell ein Thema, das mich wütend macht: die Industrialisierung der Landwirtschaft, der Umgang mit Tieren. Da kämpfe ich. Ein anderes Thema ist die Redefreiheit. Das hat mit meinem Beruf zu tun. In Norwegen gab es einen Streit um Peter Handke. Als er den Ibsen-Preis erhielt, wurde gegen ihn demonstriert, wegen seiner Haltung zu Serbien. Da habe ich mich für ihn starkgemacht. Ich verlege ihn in meinem eigenen Verlag, niemand sonst macht das mehr, eine Frechheit! Also dafür kämpfe ich: dass das, was wir nicht hören wollen, auch eine Stimme hat.

STANDARD: Die Literatur hat sich immer auch dafür interessiert, wie man über das Schreiben hinauskommt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese unentwegte Arbeit des Bewusstseins, für die Ihre Bücher auch Zeugnis sind, loszuwerden. Sex wäre eine Möglichkeit, der Rausch ist eine andere. Sie interessieren sich auch sehr für Fußball.

Knausgård: In dem Buch über das Gehirn, das mich so beschäftigt – der Autor heißt Eagleton oder so – geht es um ein Phänomen, das Flow heißt. Bei Experimenten mit Kletterern hat man festgestellt, dass die so konzentriert sind, dass sie sich völlig vergessen. Das passiert manchmal auch beim Fußball, in guten Fällen auch beim Sex. Was war das Dritte?

STANDARD: Der Rausch.

Knausgård: Okay, das ist ein bisschen was anderes. Im Flow wird der Frontallappen ausgeschaltet, das Bewusstsein von sich selbst. Wenn diese Instanz im Hirn schwächer wird, ist der Flow stärker, wir sind mehr wie Tiere, wir sind stärker mit der Umgebung verbunden. Ein Rausch ist vielleicht ein eher mechanischer Weg zu diesem Zustand. Es ist klar, dass es beim Schreiben auch darum geht, in den Flow zu kommen. Ein Stürmer im Fußball würde zum Beispiel niemals ein Tor schießen, wenn er nachdenkt.

STANDARD: Welche Position spielen Sie selbst?

Knausgård: Ich spiele nicht mehr, aber ich war als Kind im Mittelfeld, dann ging ich zurück in die Innenverteidigung. Das hatte wohl damit zu tun, dass ich groß bin.

STANDARD: Wer ist für Sie der aktuell beste Stürmer im Fußball?

Knausgård: Luis Suárez vom FC Barcelona ist der beste, den ich jemals spielen sah. Er weint, wenn er ein Tor schießt. Er hat einen Italiener gebissen, so sehr war er im Flow. Er ist unglaublich intuitiv. Messi schießt viele Tore, aber er kann auch viele andere Dinge ...

STANDARD: Messi macht den Flow fast auf dem Feld sichtbar.

Knausgård: Stimmt. Suárez zeigt auch, dass der Flow in die falsche Richtung gehen kann. Maradona kannte natürlich auch den Flow, wenn Sie sich an ihn erinnern?

STANDARD: Ich erinnere mich an ein bestimmtes Solo. Aber kehren wir zurück zur Familie.

Knausgård: David Eagleman. So heißt der Autor von dem Buch über das Gehirn.

STANDARD: Er ist Ihnen wieder eingefallen. Wird notiert. Wir waren bei der Familie. Zweimal hat Literatur in Ihrem Leben Beziehungen zerstört. Gibt es vielleicht in einem Winkel Ihres Hirns auch eine Vorstellung, dass Sie das alles nicht geschrieben haben könnten und zum Beispiel als Biobauer ein schönes Leben führen könnten? Mit Linda, mit Vanja, Heidi und John?

Knausgård: Nicht wirklich. Wenn ich zufrieden und glücklich wäre, müsste ich nicht schreiben. Ich hatte immer schon Schwierigkeiten, Menschen zu verstehen, die nicht schreiben. Mich kann man nicht vor die Alternative stellen: ich oder das Schreiben.

STANDARD: Macht es Sie manchmal nervös, sich vorzustellen, wie Ihre Kinder – über die Sie inzwischen eigene Bücher geschrieben haben – eines Tages mit ihrer Literarisierung umgehen werden?

Knausgård: Ich könnte mir vorwerfen, dass ich sie für meine Zwecke verwende. Sie kommen in den Büchern vor, das kann ich nicht ändern. Meine Beziehung zu ihnen ist Liebe. Auch in den Büchern. Vielleicht werden sie sie hassen, wenn sie 16 sind, vielleicht mehr noch, wenn sie 25 sind. Vielleicht verstehen sie sie, wenn sie älter werden.

STANDARD: Das Glück am Ende von "Mein Kampf" erwies sich als flüchtig. Oder ist es doch noch da?

Knausgård: Es ist da, aber es ist alles anders gekommen. Wenn ich schreibe, ist es gut, wenn ich nicht mehr schreibe, ist es nicht mehr gut. Warum? Keine Ahnung. Ich sollte eine Therapie machen. Ich glaube aber nicht, dass ich glücklich sein muss. (Bert Rebhandl, Album, 22.7.2017)