Geht es dir gut? Stimmt etwas nicht? Kann ich dir helfen?" Kevin Hines steht breitbeinig im Saal, "das waren die einzigen Worte, die ich hören wollte, als ich auf der Golden Gate Bridge stand". Doch niemand fragte den damals 19-jährigen US-Amerikaner, als er da oben stand. "Ich habe ohne jeden Zweifel geglaubt, dass ich sterben muss. Aber ich wollte es nie", sagt Hines 17 Jahre später bei einem Vortrag der staatlichen Gesundheit Österreich GmbH. "Ich stand auf der Brücke, bereit, übers Geländer zu steigen – wegen meines Gehirns."

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Die Golden Gate Bridge in San Francisco zieht Menschen in Krisen an – viele von ihnen könnten gerettet werden.
Foto: Reuters / Kirby Lee / USA Today Sports

Hines erzählt an diesem Abend die Geschichte seiner psychischen Erkrankungen, erzählt von vergebenen Chancen, ihm zu helfen, und von dem Moment, als er tatsächlich wie hunderte andere vor ihm von der Brücke sprang. Und er erzählt das Unfassbare: Nach 70 Metern im freien Fall überlebte er den Aufprall – schwer verletzt.

Und – das ist der entscheidende Teil seiner Geschichte – er berichtet, wie er sich erholte, zurück ins Leben fand und heute mit den nach wie vor präsenten Suizidgedanken umgeht. Hines' Erzählung ist durchinszeniert, er wirkt charismatisch, lässt entscheidende Wörter mit Pausen nachwirken, baut perfekt getimte Pointen ein. Kein Wunder, er hat sein Schicksal zum Beruf gemacht.

"Brain health is sexy"

Um die 10.000 Mal habe er seine Geschichte bereits präsentiert, sagt der 36-Jährige im Interview mit dem STANDARD, im Schnitt hält er an 300 Tagen im Jahr Vorträge. 17 Jahre, nachdem er seinen Suizidversuch überlebte, ist das Thema also Hines' Job geworden. Gemeinsam mit seiner Frau Margaret betreibt er eine Produktionsfirma. Sie koordiniert seine Vortragstermine auf der ganzen Welt, er produziert Dokumentationen zu Suizidprävention und seelischer Gesundheit. Im Shop auf Hines' Website verkauft er T-Shirts, die mit "It's okay to talk" und "Brain health is sexy" bedruckt sind.

Kevin Hines hält hunderte Vorträge pro Jahr.
Melissa Norris

Er erzählt von einem "Kollektiv" von mehr als 30 Überlebenden in den USA, die "ihre Geschichte teilen. Die sind unterschiedlich: Es sind Geschichten von der Überwindung enormer Widrigkeiten, von Hoffnung, von Genesung." Hines erzählt von "faszinierenden Effekten". Oft kämen Leute nach seinen Auftritten auf ihn zu, um ihm mitzuteilen, dass seine Geschichte sie vom Plan, sich selbst zu töten, abgebracht habe – und ob er ihnen helfen könne.

Was klingt wie die Märchen, die religiöse Prediger von ihren angeblichen Wunderheilungen erzählen, ist aus wissenschaftlicher Sicht plausibel, sagt Thomas Niederkrotenthaler. Der Suizidologe und Professor für Öffentliche Gesundheit an der Medizinischen Universität Wien forscht zum "Papageno-Effekt". Dabei handelt es sich um das Gegenstück zum Werther-Effekt, bei dem bestimmte Medienberichte zu Nachahmungssuiziden führen.

Davor und Danach

Niederkrotenthaler hat in seiner Forschungsarbeit nachgewiesen, dass "Erzählungen darüber, wie Personen mit Krisensituationen und Suizidgedanken umgegangen sind und auch wie sie nach Suizidversuchen zurück ins Leben fanden, einen schützenden Effekt bezüglich Suizidalität haben können". Die von ihm und seinem Kollegen Benedikt Till in einer Studie zusammengefassten Personen lasen solche Überlebensgeschichten, woraufhin sie weniger oft über Suizid nachdachten. Laut Niederkrotenthaler sei das besonders darauf zurückzuführen, "dass der Glaube, schwierige Lebenssituationen bewältigen zu können, steigt". Wichtig sei dabei, dass Möglichkeiten zur Krisenbewältigung aufgezeigt werden.

Genau das ist auch Hines' Mission. Zwar ist die Geschichte seines Sprungs von der Golden Gate Bridge tatsächlich unglaublich: Nachdem er den rasanten Sturz auf die harte Wasseroberfläche wie nur sehr wenige überlebte, hielt ihn ein Seelöwe laut Augenzeugenberichten über Wasser, bis die Küstenwache den jungen Mann aus dem Wasser holte und rettete. Der Fokus von Hines' Erzählung liegt aber nicht auf dem Sprung, sondern auf dem Davor und dem Danach.

Davor brachten ihn eine Reihe psychischer Erkrankungen, darunter eine schizophrene Störung und Depressionen, in Kombination mit äußeren Umständen zum Punkt der vermeintlichen Überzeugung, es sei für alle Beteiligten am besten, wenn er nun stürbe. Dabei ging er, wie viele suizidgefährdete Menschen, durch unterschiedliche Phasen der Ambivalenz – einem Zustand, in dem sowohl der Wunsch, am Leben zu bleiben, besteht, als auch eine Sehnsucht nach dem Tod.

1204 Menschen töteten sich 2016 in Österreich selbst. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Versuche zehn bis 30 Mal höher ist.

Nie schweigen

Während der Busfahrt zur Brücke, erzählt Hines, hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als gefragt zu werden, ob es ihm gut gehe, ob er Hilfe brauche – heute sagt er, das hätte ihn wahrscheinlich vom Sprung abgehalten. Wenige Stunden davor hätte man ihn direkt fragen müssen, ob er vorhabe, sich Schaden zuzufügen, sagt Hines. Suizidologen rufen dazu auf, genau das zu tun, wenn man Suizidgefahr bei Freunden oder Verwandten befürchtet. Vermutet man bei anderen, sie könnten sich selbst Schaden zufügen, kämpfen diese meistens schon lange mit solchen Gedanken – und sind erleichtert, mit jemanden darüber sprechen zu können.

Nach Hines' Suizidversuch folgten Monate körperlicher und psychischer Rehabilitation: Er erzählt von einer richtiggehenden Tour durch etliche medizinische Institutionen, wie er sich dort sinnvolle Betätigungen suchte, wo es keine gab. Damals begann er, einen anderen Patienten nach einem Suizidversuch zum Sprechen zu bringen. Hines betont, wie wichtig die Unterstützung seiner Familie direkt nach seinem Suizidversuch war und welche Bedeutung dieses soziale Netz heute noch für ihn hat.

"Du trägst einen Anzug, es muss dir gut gehen"

Doch seine Geschichte ist eben kein Märchen und psychische Krankheiten kennen kein Happy End im makellosen Sinn: Bis heute ist Hines in Therapie, hat immer wieder Suizidgedanken in unterschiedlichen Ausprägungen. "Viele Leute kommen zu mir und sagen: 'Du trägst einen Anzug, es muss dir gut gehen'", sagt er. "Das könnte nicht weiter entfernt von der Wahrheit sein. Ja, mir passieren viele gute Dinge im Leben. Aber ich durchlebe immer noch die gleichen Symptome, die ich immer hatte. Ich weiß jetzt nur damit umzugehen, um sie Tag für Tag zu besiegen." Das tut er mit Medikamenten, mit Sport und Psychotherapie.

Hines hat sich sein persönliches Support-Netzwerk geschaffen, zehn Personen, darunter seine Frau, mit denen er über seine Suizidgedanken sprechen kann. Er hat seinen Ärzte die Erlaubnis erteilt, mit diesen engen Freunden zu sprechen, damit diese Probleme frühzeitig erkennen. "Ich lebe jeden Tag in Genesung, aber ich bin nicht gesund. Es ist wichtig, diese Unterscheidung zu machen", sagt Hines. Und er weiß: "Nicht jeder, der einen Suizidversuch überlebte, hat die Chance, darüber zu sprechen." (Sebastian Fellner, 30.7.2017)

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