Ray Bradbury: "S is for Space"
Klappenbroschur, 284 Seiten, € 11,30, Knaur 2017 (Original: "S is for Space", 1966)
[Mit der Stimme von Udo Jürgens:] Was ist Zeit, was ist Zeit? – Relativ ist sie, vor allem anderen. Erst recht in der Science Fiction: So manches Virtual-Reality-Szenario aus den 90er Jahren wirkt heute so veraltet wie eine Dampflokomotive, während viele (nicht alle) Erzählungen Cordwainer Smiths aus den 50ern und frühen 60ern immer noch wie Botschaften aus einer unvorstellbar fernen, fremden Zukunft klingen. Erzählkunst macht zeitlos, deshalb ist dieser Kurzgeschichtenband des großen Ray Bradbury auch heute noch ein Genuss (mit den üblichen Abstrichen, mehr dazu später).
Es ist die deutschsprachige Erstveröffentlichung des gleichnamigen Bands, der im Original 1966 erschien. Tatsächlich reicht er aber noch viel weiter zurück: "S is for Space" war seinerzeit eine Sammlung älterer Erzählungen – die früheste, "Der unsichtbare Junge", war im Jahr 1945 erschienen. Oft wurden Bradburys Kurzgeschichten aber in verschiedenen Sammlungen wiederveröffentlicht und mit diesen auch übersetzt. Der vorliegende Band ist als Zusammenstellung tatsächlich eine deutschsprachige Premiere, zumindest ein Großteil der 16 Geschichten war auf Deutsch aber bereits erhältlich. Elf habe ich auf die Schnelle in Sammlungen wie "Der illustrierte Mann" oder "Medizin für Melancholie" gefunden. Ich vermute aber stark, dass alle schon hier oder da auf Deutsch veröffentlicht wurden (bibliografische Angaben wären übrigens hilfreich gewesen). Nichtsdestotrotz ein schönes Wiederlesen mit einem Stück Genrehistorie.
Das Grauen im Wirtschaftswunderidyll
Die Stadt ringsum summte vor Leben. Die Straßen waren von gepflegten Gärten und idyllischen Bäumen gesäumt. Einzig der Wind brachte Unruhe über die Stadt, das Land, den Kontinent. Bäume, Kinder und breite Straßen wie diese fanden sich in tausend Städten, und dort wie hier sprachen Geschäftsleute in leisen Büros ihre Nachrichten auf Band, und Leute saßen vor den Televisoren, und Raumschiffe fuhren wie Stopfnadeln durch den blauen Himmel. Es herrschte der weltumspannende, sorglose Hochmut friedensverwöhnter Menschen, die davon ausgingen, dass es niemals mehr auch nur den kleinsten Ärger gab.
"Stunde null" aus dem Jahr 1947 macht den großartigen Auftakt. Darin haben die Kinder der Welt ein neues Spiel entdeckt, nämlich eine Invasion durch Außerirdische vorzubereiten. Die Fakten liegen von Anfang an auf dem Tisch, werden aber von den saturierten Erwachsenen nicht ernstgenommen – bis es zu spät ist. Der Überschwang der Kinder prägt den Ton der Erzählung und Bradbury versteht es meisterlich, die ausgelassene Stimmung in Windeseile in nacktes Grauen umschlagen zu lassen. 15 Jahre später wiederholte er die Plot-Formel in "Komm in meinen Keller". Wachsender Suspense tritt hier an die Stelle hektischen Tempos.
Kinder, Kinder
"S is for Space" wurde seinerzeit für ein Young-Adult-Publikum zusammengestellt, darum spielen in vielen Geschichten Kinder eine zentrale Rolle. Wie Charlie in "Der unsichtbare Junge", der von einer Hillbilly-Hexe adoptiert wurde. Der wollen ihre Zauber nicht wirklich gelingen, und so gaukelt sie ihm vor, sie habe ihn unsichtbar gemacht, um ihn an sich zu binden. Nach wechselseitigen Streichen nimmt die witzige Geschichte aber noch eine ungeahnte Wendung.
Nach einem Atomkrieg ist "Das Lächeln" angesiedelt. Die Überlebenden zerstören rituell das gesamte Erbe der Vergangenheit – nur ein kleiner Junge rettet ein ganz besonderes Stück der Kunstgeschichte. In "Die Schreiende Frau" hört die kleine Maggie Hilferufe aus dem Boden, doch niemand will ihr glauben. Das Ende der Erzählung riecht etwas nach Deus-ex-machina-Lösung – wie die Erwachsenen (schon wieder!) über das Kind hinweggehen, ist aber formidabel beschrieben.
Die schönste "Kindergeschichte" in diesem Band ist "Hallo und Lebwohl". Ihr Protagonist ist schon über 40, sieht aber immer noch wie ein Zwölfjähriger aus. Darum wandert er von einer Pflegefamilie zur anderen – sobald sein Nichtaltern aufzufallen beginnt, zieht er weiter. Eine sehr schöne Erzählung, deren Stimmung vom Wissen um die Vergänglichkeit getragen wird und die ein Urahn von Harlan Ellisons "Jeffty ist fünf" sein könnte.
Halt doch mal einer die Zeit an!
In "Hallo und Lebwohl" klingt aber auch etwas an, das typisch für Bradbury ist und die Lektüre seiner Geschichten für mich stets zu einem zweischneidigen Schwert gemacht hat. Auf der einen Seite steht die meisterliche Erzählkunst – auf der anderen das ewige Festhalten an der Vergangenheit. Was man als Kritik an der Moderne auffassen kann (ein Umstand, der sicher zu Bradburys Popularität beigetragen hat), das aber oft auf diese Formel hinausläuft: O weh, keiner liest mehr Bücher aus Papier oder glaubt an Gott, jetzt geht alles den Bach runter. Man kann schon vor dem Aufschlagen eine Stricherlliste der erwartbaren Themen anfertigen und sie dann der Reihe nach abhaken.
Zum Beispiel Fernsehen vs. Literatur: In "Der Spaziergänger" wird ein Schriftsteller verhaftet, weil er als Einziger nachts auf der Straße unterwegs ist, während alle anderen daheim vor der Glotze vegetieren. Er hatte seit Jahren nichts mehr geschrieben. Magazine und Bücher verkauften sich nicht mehr. Alles spielte sich nun nachts in den gräbergleichen Häusern ab, spann er sein Fantasiegebilde fort, die Grüfte, fahl von Fernsehlicht erfüllt, in denen die Menschen wie die Toten saßen und das graue und vielfarbene Licht ihre Gesichter berührte, ohne sie jemals wirklich zu berühren.
Oder Religion vs. Wissenschaft: "Der Mann" ist ein selbstherrlicher Raumschiffkapitän, der es nicht fassen kann, dass sich die Eingeborenen eines Planeten nicht für seine Landung interessieren, weil Jesus schon vor ihm angekommen ist. Das hat was von Buffy Sainte-Maries Song "Moonshot", und Bradbury findet ein eindringliches Bild für die Unmöglichkeit, Gott mit den Mitteln der Wissenschaft zu finden. Poetisch überzeugend ist dieses Bild – aber vielleicht ist der Grund dafür, warum die Wissenschaft bislang keine Götter gefunden hat, ja viel einfacher ... Bradbury aber bleibt metaphysisch: Auch in der Geschichte mit dem verheißungsvollen Titel "Der Kokon" scheitern drei Forscher, als sie die spirituelle Metamorphose eines Kollegen mit ihren Methoden erfassen wollen.
Die leidige Technik
Die technologische und gesellschaftliche Weiterentwicklung wird fast durchgängig negativ bewertet (bis hinein in Petitessen: in "Die Straßenbahn" etwa müssen wir halt schlucken, dass der neueingeführte Bus nie so wunderbar sein wird wie die alte Straßenbahn). In "Auf den Schwingen der Zeit" mokieren sich Zeitreisende über ihnen barbarisch erscheinende Phänomene unserer Gegenwart, welche indirekt aber natürlich laut und deutlich als verlorene Werte rüberkommen (Kernfamilie, der 4. Juli, Tierquälerei im Zirkus).
Und in den beiden aus den "Mars-Chroniken" bekannten Erzählungen "Das Millionen-Jahre-Picknick" und "Dunkel waren sie und goldäugig" flüchten zwei Familien vor dem Atomkrieg auf den Mars, wo sie alsbald den wissenschaftlich-technologischen "Irrweg" der irdischen Kultur verlassen und zu Marsianern werden. Denselben "Irrweg" also, der ihnen die Ankunft im neuen Idyll überhaupt erst ermöglicht hat. Da wird die Kritik an der Moderne schon etwas paradox.
Ambivalenz
Glücklicherweise weicht Bradbury seine Linie aber auf und kommt auch zu einigen ambivalenteren Ergebnissen. So lässt in "Die Flugmaschine" der vorausschauende chinesische Kaiser einen Erfinder bestrafen, dessen Apparat auf eine technologische Singularität hinausliefe. Der Kaiser selbst indes ist von einer anderen Erfindung fasziniert: einem ebenso putzigen wie sinnlosen mechanischen Garten mit künstlichen Vögeln – Symbol der Erstarrung.
Und in "Feuersäule" steigt der im Jahr 1933 verstorbene William Lantry 2349 aus dem Grab, um sich in einer Welt wiederzufinden, die den Tod abgeschafft hat. Alle Erinnerungen an Tod und Leid wurden beseitigt – inklusive eines Großteils der klassischen Literatur. Es ist ein unschuldiges Utopia voller netter Menschen, das Lantry derart auf die Palme bringt, dass er zum Massenmörder wird.
Als positive Identifikationsfigur für Bradburys Schwelgen in vergangenen Werten taugt Lantry (Er kam voller Hass aus der Erde) eindeutig nicht und war auch nicht als solche beabsichtigt. Dafür bringt Bradbury in einem Stoßseufzer des Untoten zum Ausdruck, was ihn selbst zum Schreiben vieler seiner wundervollen Geschichten bewegt hat: "Ich bin ein Anachronismus." Paradoxerweise aber ein zeitloser, der Erzählkunst sei's gedankt.