"Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hielt seine schützende Hand über dieses Institut [...] Es hielt den an sie grenzenden Wohnsilos den Hintern hin, so formulierte es der an Musils Worten entlang lebende Germanist. Die Maulwürfe lehren die Schmetterlinge das Fliegen, so ist es, seufzte der Biologe, die Vögel das Innerste und Dunkelste des Universums. Der Bücherkundige stimmte lebhaft zu: Da sie blind sind wie die Fledermäuse, meinten sie, dass alles in der Ordnung sei. Nach dem Genuss einiger Regenwürmer werfen sie ihre Hügel und zeigen so der Welt, die es zu diesem Behufe geben musste, welche Bedeutung sie hätten [...] Sie winkten der Kellnerin energisch zu, ein Getränk reicht eben nicht, um den harten wissenschaftlichen Alltag hinter sich zu lassen."

So beginnt die Erzählung "Der Maulwurf" aus Gerhard Hammerschmieds 2016, wenige Monate nach dem überraschenden Tod des Autors, veröffentlichtem Erzählband "Der Himmel ist ein blinder Spiegel".

Der 1953 in Judenburg geborene Romanist und Theologe Gerhard Hammerschmied lehrte Philosophie an der Universität Klagenfurt, war preisgekrönter Übersetzer aus dem Spanischen und dem Französischen, theoretischer Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler. Daneben fand er auch noch Zeit, regelmäßig nach Nicaragua zu reisen, wo er seit den Achtziger Jahren an diversen sozialen Entwicklungsprojekten mitarbeitete, – und zu schreiben.

Von Maulwürfen, Regenwürmern und Schmetterlingen

Die vielschichtige Parabel "Der Maulwurf" eignet sich gut als Einstieg in Hammerschmieds Literatur. Hier begegnen wir den typischen Merkmalen seiner Texte – allerdings, um es in der Sprache der Computerspiele zu sagen, sozusagen noch auf "Level One". Wie andere Prosatexte Hammerschmieds konfrontiert uns auch "Der Maulwurf" mit einem ständigen Wechsel der Perspektive, der Erzählrichtung und dessen, wovon überhaupt die Rede ist. Und immer wieder mit Verweisen auf andere Autoren, etwa auf Musil. Ein Satz wie "[die Maulwürfe] zeigen so der Welt, die es zu diesem Behufe geben musste, welche Bedeutung sie hätten" macht stutzig.

Was soll das heißen? Ganz unerwartet wird der Rahmen, in dem wir begonnen haben, uns wohlig einzurichten, gesprengt. Die aus Maulwürfen, Regenwürmern und Schmetterlingen bestehende Idylle wird unversehens zur Kosmogonie – zur Erzählung über die Entstehung der Welt  – und wir erfahren wie beiläufig, zu welchem Behufe diese unsere Welt existiert: Damit ihr die Maulwürfe, nach dem Genuss einiger Regenwürmer, zeigen können, welche Bedeutung sie haben.

Frei schwebende Aufmerksamkeit

Überhaupt scheint Hammerschmied seine Leser stets aufs Neue daran hindern zu wollen, gemütlich und genüsslich – wie die Maulwürfe ins Erdreich – in seine Texte einzutauchen. Sprich: sich mit ihnen zu identifizieren. Oder noch einmal anders: Hammerschmieds Texte scheinen sich dem Verstandenwerden bewusst zu entziehen. Hier scheint es zwischen dem literarischen Werk des theoretischen Psychoanalytikers Hammerschmied und dem Alltag praktizierender Psychoanalytiker eine Parallele zu geben: Praktizierende Psychoanalytiker sollten sich nämlich – und das mag überraschen –  dem Verstehen der Rede ihrer Analysanden verweigern. Zunächst zumindest. Das unterscheidet sie von Psychotherapeuten.

Freud nennt diese Forderung nach der Verweigerung des (vorschnellen) Verstehens "Frei schwebende Aufmerksamkeit". Psychoanalytiker sollten es auch vermeiden, sich in die Person und in die Rede des Analysanden "hineinzuversetzen", wie die Maulwürfe ins Erdreich in dessen "Innenwelt" einzutauchen. So wie es die Leser Hammerschmieds vermeiden sollten, in seine Texte einzutauchen. Was uns Hammerschmieds Texte aber ohnehin nicht erlauben, weil sie uns aus dem Prozess des "Hineinverstehens", wie Hammerschmied es nennt, immer wieder abrupt hinauskatapultieren.

"Nichts über Grillparzer"

Die Grenzen herkömmlichen Verstehens werden auch in Hammerschmieds Roman "Nichts über Grillparzer" gesprengt, in dem "Grillparzers 'Ahnfrau' den Diskurs über Tod und Untote" eröffnet – ein Diskurs, der dann auf verschiedenen Ebenen durchgespielt wird. Wenn etwa in "einem kleinen steirischen Ort der unversehrt erhaltene Leichnam einer Frau im Beisein des Bischofs und von 'allerlei gelehrtem Gesinde' exhumiert wird, ein von Liebesverwicklungen geschüttelter Therapeut Geister zu sehen und zu hören beginnt – und an der Küste Nicaraguas Touristen die Verschnitte indigener Traditionen als Zauberkuren verkauft werden".

Aufführung von Grillparzers "Die Ahnfrau" im Kasino am Schwarzenbergplatz 2013.
Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Diese und andere Einbrüche des Wunderlichen und Übernatürlichen in den Alltag – die auch in "Der Himmel ist kein blinder Spiegel" begegnen – sind bei Hammerschmied nicht Selbstzweck. Das Übernatürliche bildet hier ein Fenster, das den Blick auf das Natürliche freigeben soll – konkreter: auf unsere Triebnatur.

Den Gedanken, der sich hier – zumal bei einem Autor mit theologischem Hintergrund – aufdrängt, dass nämlich heute, wo Gott tot und die Religion entmachtet scheint, die Literatur zum Zufluchtsort des Übernatürlichen und Geheimnisvollen geworden sei – diesen häufig geäußerten Gedanken halte ich allerdings für falsch.

Goethes mitfühlendes Vampirmädchen

Denn: Weder ist die Religion in jedem Fall der "natürliche Ort" des Wunderlichen und Geheimnisvollen – im Gegenteil: Religionen sehen es vielfach als ihre Aufgabe, uns die Geheimnisse der Schöpfung zu erklären. Noch ist die Religion heute entmachtet – werden wir aktuell nicht von einer bedrohlichen Welle der "Religionisierung" überflutet? Noch ist Literatur erst seit der Moderne der Schauplatz des Übersinnlichen: In Goethes Ballade "Die Braut von Korinth" etwa, die auf einer Erzählung des antiken – also lange vor dem sogenannten "Tod Gottes" verfassten – "Buches der Wunder" basiert, und von dem auch im Kapitel "Fachdeutsch" des Erzählbands "Der Himmel ist ein blinder Spiegel" die Rede ist, handelt von einem mitfühlenden Vampirmädchen. Dieses macht Goethe zum Vehikel seiner vehementen Anklage gegen die Triebfeindlichkeit des Christentums. Bei Goethe, wie bei Hammerschmied, begegnet also im Übersinnlichen das verleugnete Sinnliche, im Übernatürlichen die verdrängte Natur.

Die Wirklichkeit ist der Tagtraum des Kinos

"Der Himmel ist ein blinder Spiegel" trägt den Untertitel: "Die Wirklichkeit ist der Tagtraum des Kinos", und die Passagen über das Kino – neben der Musik, der Malerei und der Literatur die vierte Kunstform, mit der Hammerschmied sich und uns in seinem Erzählband beschäftigt –  sind wohl die persönlichsten in diesem Buch.

Auch das Kino kann, mit den Augen Hammerschmieds betrachtet, zum  Schauplatz des Übernatürlichen werden. Die Metapher von Hollywood als "Traumfabrik" ist uns ja als leere Phrase vertraut. Dass wir das Kino aber auch als "Fabrik des Übernatürlichen" auffassen könnten, soll uns das folgende Gedankenexperiment zeigen: Wenn wir einen Menschen, sagen wir, des 18. Jahrhunderts mittels Zeitmaschine in die Gegenwart entführten, ihm im Kino einen alten Film vorführten – und ihm mitteilten, dass die Personen, die er auf der Leinwand sieht, alle schon tot sind, wird er wohl erschrecken und ausrufen: "Das sind ja alles Gespenster – und Geister!"

"Man ließ sich in den Kinosessel fallen und die Kamera fahren. Eine Geisterbahnfahrt, durch Kitsch und Schund, durch edle Gefühle und Verzweiflung, in manche Freiheit, der man nicht lange standhalten konnte. Sie war oft gröber als jeder Alltag, konnte ihn selten erleichtern [...]

Eine Woche im Spätherbst und Winter, in der wir, Freunde und ich, nicht mindestens vier Mal im Kino saßen, war eine kümmerliche. Sonntagnachmittag einer Kleinstadt, die Ruhe und Langeweile, die alles war, und der Frieden den man gab. Eine Selbstnarkose [...]

Die große Kunst und Erholung von den folgenlosen amerikanischen Folgen des Fernsehens organisierte man sich dort an einem Wochentag. Oft waren wir fasziniert, noch öfter verstört, weil sich manch Geheimes des Elternhauses mit Sequenzen aus Filmen [...] verschränkten: Der Krieg der Knöpfe von Yves Robert, dem Patenonkel meiner Phantasien. Die erste Filmgeburt meines Lebens sah ich dort: Helga. Und sie war so glücklich [...] Die Leute ringsum nahmen Platz in neuen Kategorien: Du Sturzgeburt du, du Zangenbaby, du Nachgeburt …"

Für die jüngeren Leser: "Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens" war ein Aufklärungsfilm von 1967. Die unaufgeklärte Helga möchte heiraten. Eine Frauenärztin klärt sie über Geschlechtsverkehr und Geburtenkontrolle auf. Bald ist Helga schwanger. Sie besucht einen Kurs für werdende Mütter, wo sie über die bevorstehende Geburt informiert wird. Die Geburt selbst wird in allen Einzelheiten gezeigt. Bald danach ist Helga eine glückliche Mutter, die noch drei weiteren Kindern das Leben schenkt.

junkiefix

Lektürewarnung

Sollte Sie dieser notwendig fragmentarische Beitrag auf das Werk eines – sehr zu Unrecht – verkannten Autors neugierig gemacht haben, wäre dessen Zweck erreicht. Eine Lektürewarnung sei an dieser Stelle aber ausgesprochen: Wer als Leser die vom Germanisten Walter Fanta im folgenden angeführte Qualifikationen nicht erfüllt, den könnte die Lektüre der Texte Hammerschmieds enttäuschen.

"[Gerhard Hammerschmied] verdient Leser, die sorgfältig lesen können, auf die Übergänge achtend, den Wechsel der Erzählstimmen und der erzählten Stimmungen. Es ist nichts für die Eiligen, die Oberflächlichen. Es ist genug Spannung und Bewegung in den Liebes- und Gespenstergeschichten. Aber dennoch ist es ein Buch für die Nachdenklichen und die tiefer Nachforschenden – ich weiß, dass es die gibt." (Sama Maani, 8.8.2017)

Literaturhinweise

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