Drei von fünf Sternen: In Zukunft könnten Menschen durch digitale Anwendungen vermessen und verglichen werden – wie heute etwa schon Restaurants und Hotels.

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Ich hatte eine kleine Schwester, ein bezauberndes Geschöpf", sagt der Freund. "Was wurde aus ihr?", will Fünfzig wissen. "Sie lebt nicht mehr. Sie starb als junges Mädchen", antwortet sein Gegenüber. "Und wie hieß sie denn?" Der Freund: "Sie hieß Zwölf."

Zu Beginn der 1950er-Jahre schrieb Elias Canetti das Stück Die Befristeten. Es gibt den Menschen Antwort auf die Frage: Wann werde ich sterben? In Canettis Stück lauten die Namen der Protagonisten wie das Alter, das sie erreichen werden. Jeder Mensch kennt also den Tag, an dem er sterben wird.

Über sich selbst Bescheid wissen, den eigenen Körper kennen und kontrollieren – im digitalen Zeitalter führt das dazu, dass Menschen sich immer intensiver selbst vermessen.

Ein neues digitales Tool, das den Menschen lesbar machen soll, heißt "Precire". Angeblich soll die Software genauso gut wie Psychologen in aufwendigen Tests ermitteln können, wie jemand tickt – und zwar anhand einer Sprachprobe. Eine Methode, die auch Wissenschafter nicht anzweifeln. Aber wie funktioniert das? Die Testperson beantwortet per Telefon Fragen, etwa: "Was haben Sie am Sonntag gemacht?" Das Tool zeichnet die Antworten auf und analysiert sie. Was dabei zählt, ist nicht der Inhalt, sondern das Sprachmuster. Die Auswertung, die nach einigen Tagen vorliegt, soll Auskunft über den Charakter des Getesteten geben. Balkendiagramme zeigen, wie neugierig, risikofreudig, leistungsbereit oder emotional stabil jemand sei. Auch das Stresslevel soll die Software messen können. Für die Testung gibt es bereits Abnehmer in Deutschland und Österreich, ein Wiener Unternehmensberater offeriert sie für 2000 Euro.

Precire analysiert die Sprache anhand verschiedener Merkmale wie Satzbau und Wortwahl, wie schnell und wie laut jemand spricht. Das Sprachmuster soll ein Bild von der Persönlichkeit des Gestesten geben. So lerne man "versteckte Talente kennen" und merke, "welche Eigenschaften wir trainieren können".
PRECIRE Technologies GmbH

Das Beispiel Precire zeige, "dass sich die Sehnsucht nach Veredelung immer weiter steigern lässt", sagt Stefan Selke, Professor für Soziologie und gesellschaftlichen Wandel in Furtwangen, der ein Buch zum Thema Selbstvermessung geschrieben hat. Er stellt fest, dass der Trend sich ausweitet. Tatsächlich beschäftigt sich die Software Precire mit Bereichen der Psyche, mit denen sich viele wohl selbst noch gar nicht beschäftigt haben – oder die sie anderen nicht ohne weiteres preisgeben würden.

Sehnsucht nach Kontrolle

Wie weit Algorithmen bereits in das Privatleben vordringen können, zeigt auch der Fruchtbarkeitstest des Unternehmens Ivary. Durch das Verfahren, das 149 Euro kostet, lässt sich feststellen, wie fruchtbar eine Frau ist und für wie viele Jahre sie noch Kinder bekommen kann. Dazu werden lediglich einige Antworten auf einem Fragebogen und fünf Tropfen Blut benötigt, die sich frau mittels Testkit zu Hause selbst aus der Fingerkuppe entnehmen kann. Mit ihrer Erfindung wollen die Gründer Frauen bei der Familienplanung helfen, etwa wenn es darum geht, sich zwischen Kindern und Karriere zu entscheiden.

Aber woher kommt die Lust an der Selbstvermessung? Die Paar- und Sexualtherapeutin Brigitte Moshammer-Peter nennt als mögliche Antwort die Sehnsucht nach Kontrolle: "Frauen müssen heute Karriere machen und Kinder kriegen." Durch die vermeintliche Planbarkeit "wirkt das Dilemma plötzlich überschaubar."

Dass Menschen durch die Selbstvermessung vor allem eines erreichen wollen, "nämlich Sicherheit", vermutet auch Soziologe Selke. Sicherheit in einer unsicheren, immer komplexer werdenden Welt, von der sich viele überfordert fühlen. "Die globalen Krisen sind nicht mehr handhabbar, aber handhabbar ist der Körper, das Lebensumfeld." Und das ist ein Lebensumfeld, das zunehmend jeder Einzelne selbst gestalten muss. "Die Laufbahnen sind nicht mehr in einer Art vorgegeben wie noch vor 100 Jahren", sagt Nils Heyen, der zum Thema digitale Selbstvermessung am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe forscht.

Also wird beobachtet und protokolliert. Unter dem Namen Quantified Self hat sich eine Gruppe Gleichgesinnter, die auf diese Weise ihr Leben optimieren wollen, zusammengetan. Die Selbstvermesser beobachten und messen mittels Apps ihren Schlaf, ihre Bewegung, ihr Gewicht, jedes Gramm Nahrung, das sie zu sich nehmen – und sogar den CO2-Gehalt in der Luft, die sie atmen. Florian Schumacher ist der Begründer der Bewegung in Deutschland. Er sagt Sätze wie: "Die Optimierung ist eine Lebenseinstellung, man wird nie zu Ende optimiert sein." Um seine Ernährung zu verbessern, nimmt er sich selbst regelmäßig Blut ab. Zum Frühstück isst er Pilzpulver mit Öl, das sei zwar nicht lecker, aber effizient.

Einer Umfrage der Unternehmensberatung Pwc zufolge, verlassen sich der 57 Prozent der Befragten stärker auf ein Wearable, also ein digitales, tragbares Gerät, als auf Freunde oder Familie. Das Unternehmen hat in einem Video eine Zukunftsvision erschaffen, in der beinahe alles, was der Mensch tut, digital vermessen wird.
PwC US

Dass Frauen durch einen Test feststellen können, wie viele Jahre sie noch fruchtbar sind, schockiert Schumacher nicht. "Das macht sie unabhängiger vom Arzt." Gefragt, ob er sich einem Persönlichkeitstest wie Precire unterziehen würde, sagt er: "Ich hätte keine Bedenken. Ich bin immer daran interessiert, mehr über mich, über meine Stärken zu erfahren, um sie noch besser einzusetzen." Der Selbstvermesser bezeichnet die Tools als "Instrumente der Selbstermächtigung".

"Man beschäftigt sich mit sich selbst, schaut in die Tiefe", sagt Soziologe Selke, "man kommt schnell zu Erkenntnissen." Verloren gehe dadurch allerdings die Selbstaufmerksamkeit. Früher war man spontan, hat Fehler gemacht, daraus gelernt – dieser Schritt wird mit einem Blick auf die App oder einem Test übersprungen. "Algorithmen nehmen uns ab zu lernen." Man müsse sich immer noch auf sich selbst und den eigenen Körper verlassen, sagt auch Experte Heyen, und dürfe sich nicht von einer App sagen lassen, "dass man schlecht geschlafen hat, obwohl man sich eigentlich ausgeruht fühlt".

Heyen kennt hingegen auch Fälle, die optimistisch stimmen: "Es kann gelingen, dass Menschen über den Weg der Technologie wieder ein Gefühl für ihren Körper bekommen, weil es plötzlich eine Rückmeldung gibt, die sichtbar ist." Etwa Fitnessapps könnten spielerisch jene zu Bewegung animieren, die sonst keinen Sport treiben. Ob Apps die Gesundheit insgesamt steigern können, wird derzeit erforscht. Ergebnisse liegen noch nicht vor.

Ständig im Wettbewerb

Viele Apps messen allerdings zuverlässig Werte wie Herzfrequenz oder die Anzahl der zurückgelegten Schritte. Diese, so die Experten, sagen aber nichts über den generellen Gesundheitszustand einer Person aus. Heyen: "Der Mensch ist komplex und kann deshalb nur schwer von Algorithmen erfasst werden" – egal ob es um Gesundheit oder Charakter geht. "Menschen lassen sich eben nicht auf Balken reduzieren", sagt Selke. Das Wissen ist letztendlich ein oberflächliches. Selbst Schumacher gesteht ein: "Man sollte das Ergebnis nie als Urteil sehen. Jeder Anwender muss verstehen, dass statistische Verfahren nur eine gewisse Aussagekraft haben."

Das ist auch wichtig, um nicht unter Druck zu geraten. Denn das Gefühl, Leistung erbringen – sowie fruchtbar, fit und charakterstark sein – zu müssen, wird durch sichtbare Daten verstärkt. Das könne sich auch auf die psychische Gesundheit auswirken, sagt Psychotherapeutin Moshammer-Peter: "Dass Paare genau wissen, wie lange die Frau noch fruchtbar ist, kann eine unfassbare Belastung sein."

Eine weitere Folge laut Heyen: Das Privatleben wird zunehmend betriebswirtschaftlich organisiert. Dadurch wird der Mensch zur Ware. "Die Tests liefern uns Anhaltspunkte für unseren Marktwert und dafür, wie wir ihn steigern können", sagt Selke. Es herrscht ein ständiger Wettbewerb. Selbstvermesser Schumacher ist der Meinung, dass das mehr Fairness bringen könnte. Eine Sprachanalyse wie die von Precire könne etwa helfen, objektivere Daten von Bewerbern zu gewinnen. "Wer ist introvertiert, wer extrovertiert?" So könne man dafür sorgen, dass Persönlichkeiten in einem Team zusammenpassen.

Gewinner und Verlierer

Soziologe Selke stellt dem entgegen: "Die Daten sind nicht einfach nur beschreibend." Im Gegenteil, es schwinge die Erwartung optimaler Ergebnisse mit. "Wer sie nicht hat, wird aussortiert." Und: Nicht jeder kann sich die Apps, Fruchtbarkeits- und Charaktertests leisten, gibt Heyen zu bedenken. Der Trend produziert Gewinner und Verlierer.

Das dystopische Bild einer Gesellschaft, die sich dem Prinzip der Selektion unterwirft, zeichnet die erste Episode der Netflix-Serie Black Mirror. Der Zuseher begleitet darin die Protagonistin Lacie. Sie ist jung, hübsch und hat eine 4,2 auf der fünfstufigen Bewertungsskala. Denn in dieser Welt bewerten Menschen einander permanent gegenseitig: Wie freundlich ist das Gegenüber? Wie interessant? Wie attraktiv? Einmal nicht zu grüßen ist der erste Schritt ins soziale Aus. Die Urteile der anderen kann jeder digital abrufen – sie schweben den Protagonisten über den Köpfen wie ein Damoklesschwert. Lacie versucht daher ständig, sich selbst zu optimieren. Vor dem Spiegel übt sie ihr Lachen – dabei ist auch ihre Verzweiflung zu spüren. Denn nur wenn sich ihre Bewertung verbessert, bekommt sie die Wohnung, die sie unbedingt haben will, einen besseren Job, angesehenere Freunde, den letzten Platz im Flugzeug.

Die Serie Black Mirror entwirft eine Dystopie: Wer sozial kompetent ist, bekommt gute Bewertungen und ist dadurch mehr wert. Protagonistin Lacie versucht mit allen Mitteln, ihren Mitmenschen zu gefallen.
Netflix UK & Ireland

Ob die Dystopie eines Tages Wirklichkeit wird? Was für Elias Canetti in den 1950er-Jahren noch unvorstellbar war, ist heute realer denn je. Das Unternehmen +rehabStudio hat eine Applikation entwickelt, die dem Träger einer Smartwatch die genaue Anzahl an Jahren, Tagen und sogar Minuten bis zum Ende seines Lebens vorhersagt. Treibt er Sport, steigt die angezeigte Lebenserwartung, ernährt er sich ungesund oder schläft zu wenig, sinkt sie.

Der Tod kommt in etwas mehr als 57 Jahren. Mit der Lift Clock App hat ihr Träger immer im Blick, wann er sterben wird. Doch das Urteil ist nicht in Stein gemeißelt: Denn wer gesund lebt, kann Lebenszeit gewinnen.

Jeder Trend hat auch Gegentrends. Im Falle der Selbstvermessung ist es das immer stärker werdende Bedürfnis vieler Menschen nach digitalen Auszeiten, Entspannung und dem Besinnen auf sich selbst. Statt um Leistung geht es darum, sich wohlzufühlen. Welcher Trend sich am Ende durchsetzen und zum Massenphänomen werden wird, ist ungewiss. Nicht ausgeschlossen ist, dass selbst Auszeiten zu einem Wert werden, der sich mit einer App messen lässt. Am Ende empfiehlt das digitale Gerät: Entspannungslevel optimieren! (Lisa Breit, Bernadette Redl, 15.8.2017)