Kraft entfalten kann nur der, der starke Muskeln hat – und Muskeln hat, wer sie braucht. Training ist deshalb ein Boxenstopp für den Körper.

Illustration: Francesco Cioccolella

Wer schon einmal mehrere Minuten für ein Foto dauerlächeln musste, weiß, wie anstrengend das ist. Kein Wunder, denn wir benötigen dafür 43 Muskeln. Gedanken über unsere Muskeln machen wir uns aber meist erst dann, wenn etwas nicht stimmt: wenn sie nach ungewohnten Anstrengungen schmerzen oder wir uns nach strammeren Körperkonturen sehnen. Dabei formen, stützen und bewegen sie uns nicht nur: Muskeln halten uns auch gesund.

"Früher haben wir Muskeln isoliert betrachtet. Heute wissen wir, die gesamte Muskelmasse ist ein Organ, das mit allen anderen Organen des Körpers kommuniziert", sagt Barbara Wessner vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien. Als Forscher vor zehn Jahren entdeckten, dass Muskeln hormonähnliche Botenstoffe, sogenannte Myokine, produzieren und auf diese Weise Gehirn, Herz, Fettgewebe und Immunsystem beeinflussen, war das eine Sensation.

"Damit war eine Erklärung gefunden für die vielfältige, positive Wirkung von Bewegung", so Wessner. Bis heute wurden mehrere Hundert Myokine entdeckt – von vielen ist die Funktion noch nicht bis ins Detail geklärt.

Botenstoffe am Werk

Muskeln sondern die Botenstoffe ab, wenn sie arbeiten, sich also zusammenziehen. Das erste Myokin, das entdeckt wurde, war Interleukin 6 (IL-6). Es befördert die Aufnahme von Zucker in die Muskelzelle, fördert Fettverbrennung und wirkt entzündungshemmend. Beim Sport kann die Konzentration von IL-6 um das Hundertfache im Blut ansteigen. Aus diesem Grund wirkt Sport einerseits vorbeugend, anderseits als Therapie bei Erkrankungen wie Übergewicht oder Diabetes Typ 2.

Bei diesen Leiden finden sich dauerhaft leicht erhöhte Entzündungswerte im Blut, was die Blutgefäße schädigen kann und das Risiko für Herzinfarkt und Krebs erhöht. "Wer körperlich aktiv ist und seine Muskeln fordert, setzt Stoffe frei, die sich positiv auf den Zucker- und Fettstoffwechsel auswirken und vor chronischen Entzündungen schützen", sagt Wessner.

Wachstum anregen

Überraschender war die Erkenntnis, dass Muskeln und ihre Botenstoffe offenbar auch das Gehirn beeinflussen: BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) etwa regt das Wachstum neuer Nervenzellen und Synapsenverbindungen im Gehirn an. Forscher vermuten, dass dieser Mechanismus für das Wohlgefühl nach einem anstrengenden Training mitverantwortlich sein könnte – und auch manche psychische und neurodegenerative Erkrankung lindert: "Bei Depressionen wirkt Sport ähnlich gut wie Medikamente", sagt Christoph Handschin vom Biozentrum der Universität Basel.

Tatsächlich haben Depressive – und auch Alzheimer-Patienten – einen geringeren BDNF-Gehalt im Blut als gesunde Menschen, und körperliche Anstrengung erhöht die Konzentration des Botenstoffs. Es gibt Hinweise, dass auch Menschen mit Angststörungen und ADHS von regelmäßigem Sport profitieren.

Die Compliance, also die regelmäßige und dauerhafte Teilnahme an einer sportlichen Aktivität, ist aber nicht nur für Depressive eine große Herausforderung. "Einige Menschen haben auch Spaß an Schinderei, aber die meisten müssen sich überreden, denn Sport ist anstrengend", sagt Wessner. Weswegen Spaß am Sport eine Voraussetzung ist für dauerhaften Erfolg.

Aufblasen und schrumpfen

Generell gilt: Wer tüchtig trainiert, wird belohnt. Denn Muskeln sind ungeheuer anpassungsfähig: So kann konsequentes Krafttraining einen Muskel auf das Doppelte oder Dreifache vergrößern. Bei Nichtgebrauch hingegen, etwa bei einem Krankenhausaufenthalt, schrumpfen sie innerhalb von zwei Wochen um 20 Prozent. "Auch der Abbau ist ein aktiver Prozess", so Handschin.

Was sich mit unserer Evolution erklären lässt: Muskeln sind teuer, sie kosten den Körper mehr Energie als Fett- und Bindegewebe. Deswegen unterhält dieser immer nur so viele Muskeln, wie tatsächlich auch genutzt werden, um ja keine Energie zu verschwenden – denn die längste Zeit unserer Stammesgeschichte war Nahrung ein knappes Gut.

Wer keine Muskeln abbauen möchte, muss sie also nutzen. Das gilt umso mehr, je älter man wird. Denn ab 35 beginnt der natürliche Abbau der Muskulatur, ab 60 beschleunigt er sich noch einmal. Verliert jemand übermäßig viel Muskelkraft und -masse im Alter, sprechen Ärzte von Sarkopenie.

Fast die Hälfte aller 80-Jährigen ist davon betroffen mit zum Teil gravierenden Folgen: Wer keine Treppen mehr laufen kann und Schwierigkeiten hat, die Einkaufstasche zu tragen, verliert seine Mobilität und nicht zuletzt seine Selbstständigkeit.

Muskelabbau verlangsamen

Die genauen Ursachen des altersbedingten Muskelabbaus sind unklar, wahrscheinlich spielt die hormonelle Umstellung eine Rolle. Aufhalten lässt sich der Prozess nicht, aber durch Krafttraining verlangsamen. Das Alter spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn Muskeln lassen sich auch mit 90 noch kräftigen – vorausgesetzt, man ist gesund.

"Das Motto zum Muskelerhalt sollte heißen: 'Je oller, je doller.' Ich empfehle immer, je älter man wird, umso höhere, schwerere Belastungen sollte man seinen Muskeln bieten. Muskeln im Alter zu schonen hat nämlich überhaupt keinen Sinn", sagt Ingo Froböse, Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport und Bewegung der Deutschen Sporthochschule Köln.

"Täglich 10.000 Schritte und zweimal die Woche Krafttraining sind ideal", so Wessner, denn die Mischung aus Kraft- und Ausdauertraining stärkt unterschiedliche Muskeleigenschaften. Beim Krafttraining muss sich der Muskel wenige Male sehr stark anstrengen. Bei einem zweistündigen Spaziergang hingegen arbeitet der Muskel länger, wird aber weniger beansprucht. Die unterschiedlichen Reize sorgen auch für eine unterschiedliche Antwort auf Zellebene.

Ausdauer- und Krafttraining

Eine Schlüsselrolle bei der Muskelanpassung spielt das Protein PGC1-alpha, an dem Handschin forscht. Sind Muskeln inaktiv oder krank, liegt es nur in geringer Konzentration vor, werden Muskeln beansprucht, steigt der Gehalt an. Das Regulatorprotein wirkt nach innen in die Zelle und sorgt dafür, dass – je nach Anforderung – verschiedene Gene aktiviert werden: Beim Krafttraining erhöht sich so der Muskelquerschnitt, der Muskel wird also stärker und größer.

Beim Ausdauertraining aktiviert PGC1-alpha jene Gene, die dafür sorgen, dass vermehrt Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, produziert werden und sich die Durchblutung erhöht, damit der Muskel länger durchhält.

"Die Erhöhung des PGC1-alpha-Spiegels – in einem gewissen therapeutischen Rahmen – wäre eine wirklich attraktive Strategie, um bei einer ganzen Reihe von Muskelkrankheiten wenigstens die Symptome lindern zu können", sagt Handschin, der diese Wirkung im Tierversuch für Sarkopenie, ALS und Muskeldystrophie – allesamt unheilbar – bereits zeigen konnte.

Der Haken daran

Allerdings gibt es dabei einen Haken: "Es scheint, dass PGC1-alpha, wenn es nicht an andere Proteine bindet, keine feste Struktur aufweist. Erst durch die Interaktion mit anderen Proteinen nimmt es Form an", erklärt Handschin. Das macht es schwierig, ein Medikament zu entwickeln, denn üblicherweise brauchen diese einen fixen "Landeplatz", um ihre Wirkung zu entfalten.

Über Umwege könnte es dennoch gelingen, PGC1-alpha therapeutisch zu nutzen: Wissenschafter suchen nach Substanzen, die das Regulatorprotein, das sehr kurzlebig ist, stabilisieren, oder aber nach anderen Molekülen, die sich pharmakologisch leichter ansprechen lassen, und die dann in einem zweiten Schritt, die Aktivität von PGC1alpha ändern.

"Auch die sogenannten 'Exercise mimetics', also Substanzen, die die Wirkung von Training widerspiegeln, wirken zumindest theoretisch über PGC1-alpha. Es ist aber stark umstritten, ob es überhaupt möglich ist, die so vielfältigen Effekte von Training mit einer Substanz auslösen zu können, und ob die bis jetzt getesteten Substanzen nicht auch unerwünschte Nebenwirkungen haben", sagt Handschin. Manche dieser Substanzen werden dennoch bereits von Athleten missbraucht und sind als Dopingmittel deklariert. (Juliette Irmer, CURE, 28.8.2017)