Im Blogbeitrag "Wie real sind digitale Spiele?" ging es um Computerspiele, diesmal beschäftigen wir uns mit einem anderen Thema der Popkultur: Fantasy. Nicht nur, weil das Staffelfinale von "Game of Thrones" in der Nacht auf Montag ausgestrahlt wurde, sondern vor allem, weil im September eine der wichtigsten einschlägigen Tagungen erstmals in Wien stattfindet. Bei der Jahrestagung der deutschen "Gesellschaft für Fantastikforschung" treffen sich rund hundert Forscherinnen und Forscher um an der Universität Wien über "Wirklichkeit und Weltenbau" zu diskutieren.

Die Mehrheit stammt aus den Literatur-, Sprach- und Filmwissenschaften, aber es tummeln sich dort auch erstaunlich viele Historiker und Historikerinnen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Fantasy beinahe zwanghaft in unserem Vorgarten wildert. In der Tradition ihres großen Meisters J.R.R. Tolkien bedient sich die Fantasy wie selbstverständlich an Motiven aus der europäischen Vormoderne. Zwar gibt es auch Fantasy, die auf die gewohnten Versatzstücke verzichtet, aber der Mainstream ist fest in der Hand von Rittern und Drachen. Dafür gibt es gute Gründe.

Sagenhafte Vorbilder

Westliche, zumal europäische Gesellschaften sind an mittelalterlichen Sagen und Mythen wie dem Sagenkreis um den Arthushof oder dem Nibelungenlied fantastisch vorgebildet. Das macht Narrative, die auf ähnlichen Elementen aufbauen, leichter anschlussfähig. Das ist wichtig, weil – so seltsam es klingt – Fantasy nicht unrealistisch erscheinen darf. Zwar sollen und müssen dort Dinge geschehen, die sonst nicht möglich wären. Um nachvollziehbar zu sein, müssen diese aber in bekannte Strukturen eingebettet werden. Dazu verwendet die Fantasy Erzählelemente, die sich mit dem französischen Philosophen Roland Barthes als "Wirklichkeitseffekte" bezeichnen ließen. Die Fantasy wäre aber nicht, was sie ist, verwendete sie nicht auch gegenteilige Elemente. Solche, die deutlich machen, dass in der jeweiligen Erzählung ein anderer Realitätskonsens gilt. Ein Wiener Kollege, der Literaturwissenschaftler Paul Ferstl, prägte dafür den Begriff "Unwirklichkeitseffekte".

Daenerys und ihre Drachen sind prototypisch für das Genre Fantasy.
Foto: Hbo/Helen Sloan

Populäres Mittelalter

Das Mittelalter ist für beides gut. Ritter, Burgen und Gemetzel mit mehr oder weniger blanken Waffen sind historische Wirklichkeit. Sie sind aber auch Teil einer Sagenwelt, mit der wir gut vertraut sind und in der das Auftauchen eines gelegentlichen Drachen nicht unangebracht erscheint. Wie weit Fantasyautoren in ihrem Bemühen um anschlussfähige (Un-)Wirklichkeitseffekte gehen, zeigen etwa die Elben- und Orksprachen, die Tolkien nach streng wissenschaftlichen Kriterien entwickelte oder die George R.R. Martin immer wieder nachgesagte penible historische Recherche.

Die gewaltige Popularität von Fantasy führt dazu, dass viele Menschen ein gutes Gespür für bestimmte historische Narrative entwickeln. Die Faszination für das Fremde in der Fantasy ist auch ein Stück weit Faszination für das Fremde in der Geschichte. Das alte Rezept der pseudohistorischen Fantasy funktioniert wie eh und je. Auch "Game of Thrones" folgt in dieser Hinsicht dem Altbewährten. Was Martin jedoch von seinem Idol Tolkien unterscheidet, ist etwas, das man postmoderne Fantasy nennen könnte. Oft wird auch die Beschreibung „realistische“ Fantasy verwendet. Martin verwendet in seinem Werk Wirklichkeitseffekte, die unserem Zeitgeist angemessener als jene Tolkiens scheinen.

Alles neu in "Game of Thrones"?

Martin verweigert sich in seinem Werk über weite Strecken der in der klassischen Fantasy verbreiteten Dichotomie von Gut und Böse. Fast alle seiner Charaktere sind moralisch flexibel. Wenn sich beispielsweise Arya über den Verlauf der Geschichte hinweg zu einer gewissenlos mordenden Psychopathin entwickelt – einer ausgesprochen liebenswerten Psychopathin zugegebenermaßen – so sprengt sie auch die althergebrachten Konventionen des Genres. Besonders deutlich wird Martins Bruch mit vielem, das in der populären Fantasy typisch war, in der Figur des Ned Stark. Er verkörperte die klassischen Tugenden des sagenhaften Ritters: aufrecht, rechtsschaffend und ehrenhaft – ein Held ganz im Stile Tolkiens. In einer Welt, in der man das Spiel um den Thron entweder gewinnt oder dabei stirbt, kann er mit diesen Eigenschaften aber nicht reüssieren. Mit seinem Kopf fällt auch der Vorhang für die klassische Fantasy und es tritt ihr postmodernes Pendant auf die Bühne.

Sollen wir mit Arya, der Assassinin, mithalten oder nicht?
Foto: HBO/Helen Sloan

Postmoderne Fantasy

Martins Welt ist geprägt von einem Pluralismus an Wirklichkeits- und Wahrheitskonzepten und moralischer Ambivalenz. In Bezug auf den "Herr der Ringe" thematisiert Martin das auch selbst: Was geschieht nach der Niederlage Saurons mit all den Orks? Verübt Aragorn einen systematischen Genozid an ihnen? Ermordet er auch die kleinen Orkbabys in ihren kleinen Orkbabykrippen? Aragorn als Völkermörder scheint in Tolkiens Welt schwer vorstellbar, Daenerys ist dies aber durchaus zuzutrauen. Absolute Wahrheiten und homogene Meisterzählungen sucht man in "Game of Thrones" vergebens. Dies sind charakteristische Eigenschaften eines Postmoderne-Begriffs, wie ihn vor allem Francois Lyotard geprägt hat. Das bedeutet jedoch keinesfalls eine absolute Beliebigkeit der Wahrnehmung von "Gut" und "Böse". Diese Zuschreibungen werden allerdings ständig neu ausverhandelt und sind kein festgelegtes, unveränderbares Stigma, die Welt ist eben nicht nur schwarz-weiß, sondern ganz oft grau.

Dass Cersei Lannister bis zum Ende der Serie Königin von Westeros bleibt, ist zu bezweifeln.
Foto: HBO/Helen Sloan

Wie wird das wohl enden?

Besonders spannend ist daher auch die Frage, wie Martins große Geschichte wohl enden wird – ein klassisches Happy End scheint unter diesen Vorzeichen unwahrscheinlich, auch wenn die letzte Staffel der Serie teilweise üble Befürchtungen hervorrufen kann. Der Autor selbst verspricht ein "bittersüßes" Ende, was eigentlich wieder in bester Fantasy-Tradition stehen würde – schließlich ist auch das Ende des Herren der Ringe bei genauerer Betrachtung alles andere als ein Happy End. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 28.8.2017)

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