Emmanuel Macron und Christian Kern unlängst in Salzburg. Der eine gibt in der EU den Ton an, der andere eher nicht.

Foto: APA

In der Europäischen Union scheint gegenwärtig Windstille zu herrschen, und dies trotz innerer Spannungen in der Gemeinschaft und hohen Wellengangs in verschiedenen Weltregionen. Das hat nicht nur mit der konzentrierten Urlaubsabwesenheit der Brüsseler Bürokratie im August zu tun, sondern deutet auf Ruhe vor einem Sturm hin. Tatsächlich scheint die EU vor einem massiven Veränderungsprozess zu stehen, der nach den deutschen Bundestagswahlen von Macron und Merkel eingeleitet werden wird, vorausgesetzt, Letztere bleibt Bundeskanzlerin.

Der Baustellen sind viele. Da ist die Flüchtlings- und Migrationsfrage, die trotz des gegenwärtig relativ geringen Menschenzustroms eine langfristige Herausforderung für Europa darstellt, die jederzeit wieder gefährlich aufbrechen kann und dringend eine gemeinsame Vorgangsweise der Mitgliedsländer auf europäischer Ebene erfordert. Daran schließen sich – verstärkt durch einen unberechenbaren, amerikazentrierten US-Präsidenten – unmittelbar Fragen der inneren und äußeren Sicherheit Europas an, die nur im Rahmen einer gemeinsamen Außen-, Militär- und Entwicklungspolitik sowie einer engeren Kooperation der nationalen Sicherheitssysteme gelöst werden können.

Auch die Erweiterungspolitik der EU muss angesichts der ablehnenden Haltung der Bürger und der negativen Erfahrungen mit vergangenen Erweiterungsschritten unter Bedachtnahme auf innereuropäische und außenpolitische Konsequenzen auf den Prüfstand gestellt werden. Auch deswegen ist es dringend geboten, eine tragfähige Basis in den Beziehungen Europas zu seinen Nachbarn Russland und Türkei zu finden.

Weiters besteht die Gefahr einer inneren Spaltung der EU in eine Gruppe stark nationalistisch ausgerichteter und demokratische Werte geringschätzender Mitgliedsstaaten und eine einflussreiche Gruppe mit (vorerst?) noch gefestigten demokratischen Institutionen und Einstellungen. Die jüngsten Wahlgänge in Österreich, den Niederlanden und Frankreich und der Bedeutungsverlust der deutschen Rechtsparteien haben die zweite Ländergruppe wieder gestärkt und ein "window of opportunity" für die Umsetzung einer europäischen Reformagenda geschaffen.

Die augenblicklich sehr günstige Konjunkturentwicklung darf die wirtschaftlichen Risiken, denen Europa (und die Weltwirtschaft) ausgesetzt ist, nicht vergessen lassen. Stichworte dazu sind Protektionismus, Arbeitsplatzgefährdung durch Digitalisierung und Roboterisierung in den Industriestaaten und Schwellenländern, disruptive Reaktionen der Finanzmärkte auf das Auslaufen der Nullzinspolitik und der massiven Wertpapierankäufe der Notenbanken, fortgesetzte Schwächen im europäischen Bankensystem.

Dazu kommen spezifische Problemlagen in der Eurozone, von der ungenügenden realwirtschaftlichen Konvergenz, den Schwierigkeiten wichtiger Mitgliedsstaaten mit der Einhaltung der Budget- und Verschuldungskriterien, der Governance der Eurozone im Rahmen der EU bis zu den unvollendeten Großprojekten Bankenunion, Kapitalmarktunion und den Forderungen vor allem südlicher Mitgliedsländer nach einem Eurozonenfinanzminister mit Eurozonenbudget und der Schaffung eines europäischen Währungsfonds. Nicht zu vergessen die Diskussion über die Fortentwicklung der EU zu einer Sozialunion mit z. B. einem EU-weiten Arbeitslosenversicherungssystem. Zusätzlich ist in den nächsten eineinhalb Jahren der Brexit als Querschnittsmaterie über alle EU-Agenden abzuwickeln, der Ressourcen bindet und jedenfalls eine langfristige politische und wirtschaftliche Schwächung der EU und Großbritanniens mit sich bringt.

Die riesige Reformagenda, der sich EU und Eurozone gegenübersehen, kann im Rahmen der traditionellen europäischen Prozeduren von den (noch) 28 EU- bzw. 19 Eurozonenmitgliedern nicht in nützlicher Frist umgesetzt werden, und schon gar nicht mit den jetzt in Brüssel aktiven Spitzenfunktionären. Das heißt, eine voraussichtlich relativ kleine Gruppe von Mitgliedsländern, geschart um die deutsch-französische Achse, wird in den nächsten Jahren Tempo und Inhalte der europäischen Reformagenda vorgeben. Sie wird dabei alle im EU-Vertrag zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterschiedlicher Geschwindigkeiten sowie vertiefter Zusammenarbeit und vor allem das Instrument intergouvernementaler Vereinbarungen nutzen.

Macron hat in Frankreich mit bewundernswertem Mut einen Wahlkampf für Weltoffenheit, pro EU und pro Globalisierung geführt, aber auch für seine ambitionierte nationale Reformagenda. Und er hat diese Wahl eindrucksvoll gewonnen. Dass er nach 100 Tagen Amtszeit in ein Stimmungstief gefallen ist, zeigt die Ernsthaftigkeit seiner Modernisierungspolitik für Frankreich.

Er lässt auch keinen Zweifel an seinen Reformplänen für Europa und insbesondere die Eurozone. Das geht nur gemeinsam mit Deutschland und setzt voraus, dass alle Euroländer ihre Hausaufgaben leisten und dies nötigenfalls durch wirksame Sanktionen durchgesetzt werden kann. Als Gegenleistung würde Deutschland eine weitere Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Integration innerhalb der Eurozone ermöglichen.

Österreich wählt in rund zwei Monaten, und man hat bisher relativ wenig von einer wirklich ambitionierten nationalen Agenda gehört und praktisch nichts über die Positionierung Österreichs in einem sich wandelnden europäischen Umfeld. Die entscheidende Frage für Österreichs weitere Entwicklung wird sein, ob unser Land in der Gruppe der "willigen" Mitgliedsstaaten um Deutschland und Frankreich die Zukunft Europas und dessen Position in der Welt aktiv mitgestalten möchte und bereit sein wird, Beiträge in Form weiterer Souveränitätsverzichte und auch eines verstärkten finanziellen Engagements zu leisten; oder ob es sich im hinteren Feld der Zauderer, Populisten, Opportunisten und Schrebergärtner einreiht. Die Erfahrungen der Vergangenheit und der bisherige Wahlkampf lassen leider Letzteres befürchten. Außer es findet sich doch noch ein "österreichischer Macron". (Erhard Fürst, 30.8.2017)