Die offenen Kabinen verhinderten unangenehme Beklemmungsgefühle, die langsame Bewegung war stets nachvollziehbar. Paternosterfahren stellte sich als emanzipatorischer Vorgang dar ...

Foto: Christian Fischer
DER STANDARD

Effizienz, Fortschritt und Modernität – all dies assoziierten Zeitgenossen über Jahrzehnte mit dem vertikalen "Fahrzeug" Paternoster. Eine leistungsfähige Art großstädtischer Mobilität, die heute allerdings vom Aussterben bedroht ist. Nur in Wien gibt es – weltweit einzigartig – noch einige der ältesten Anlagen aus der Gründerzeit, die nach wie vor ihre Dienste verrichten. Zufall oder Notwendigkeit in einer Stadt, der nur zu gern ein Retroimage verpasst wird?

Die Vorgeschichte: Schon 1876 war im General Post Office in London ein Vorläufermodell dieses permanent laufenden Aufzugs errichtet worden, jedoch nur für die Beförderung von Paketen. 1883 war dann das Geburtsjahr des Personenpaternosters, der als "Cyclic Elevator" erneut in London in Betrieb ging. Zwei Jahre später fasste er auf dem europäischen Kontinent Fuß: Im Hamburger Geschäftshaus Dovenhof sorgte er für die Menschenzirkulation zwischen den Stockwerken.

Vorteil: Transportkapazität

Die Vorteile des Rundumaufzugs lagen auf der Hand: keine Wartezeiten, schnelle Verfügbarkeit, hohe Transportkapazitäten. Die für ein bis zwei Personen angelegten Fahrkörbe bewegten sich mit einer Geschwindigkeit von 0,2 Meter in der Sekunde und erreichten damit eine Beförderungsleistung von mehreren Tausend Personen pro Tag. Rasch verbreitete sich der Spezialaufzug in Europa, hier vor allem in Deutschland und Österreich. Als Bezeichnung setzte sich der Ausdruck Paternoster durch, abgeleitet vom katholischen Ritus des Rosenkranzbetens, als Fachausdruck etablierte sich Umlaufaufzug. Der Vertikalverkehr der Administration hatte sein adäquates Transportmedium gefunden. Real wie symbolisch, denn in der Welt der Angestellten repräsentierte der Paternoster den ununterbrochenen Arbeitsfleiß des aufstrebenden Bürgertums genauso wie die unaufhörliche Zirkulation von Akten, Personen oder ganz allgemein: von Kapital.

In Wien wurde erstmals kurz nach der Jahrhundertwende über die Einführung eines Paternosters diskutiert. Dieser sollte im neuerrichteten Gefangenenhaus installiert werden. Die Pläne zerschlugen sich, und der erste Paternoster der Stadt ging im Juli 1906 im Wiener Landesgericht für Strafsachen in Betrieb. Besonders deutlich wurde darauf hingewiesen, dass für die Sicherheit der Fahrgäste umfassend gesorgt sei: sowohl in technischer Hinsicht als auch durch die Kundmachung von genauen Benützungsvorschriften.

Gebrauchsanweisung

Die Verschriftlichung der Anleitung, verfasst in einer bürokratisch-umständlichen Sprache, war allerdings nicht unumstritten. Das Deutsche Volksblatt etwa ereiferte sich heftig über die penible Empfehlung zum richtigen Ein- und Aussteigen mithilfe von "messingenen Handgriffen bei gerader Körperhaltung und mäßig gebeugtem Arme". Auch, dass es hieß, es könne letztlich "nur eine Folge von Unaufmerksamkeit sein, wenn jemand das gewünschte Stockwerk nicht erreicht", sorgte für Empörung.

Es war das altehrwürdige Image des Gebäudes, seine untadelige Seriosität, die hier mit der Einführung einer technischen Innovation aufs Heftigste kollidierte. Dass sich die ersten Paternoster in Wien ausgerechnet in jenen Gebäuden etablieren sollten, in denen Gesetzesbrecher verkehrten, verführte natürlich zu ironischen Bemerkungen. Der neue Aufzugstyp bewährte sich. Der Paternoster avancierte zu einer "Sehenswürdigkeit für Wien". Technische Fachleute interessierten sich, selbst ausländische Staatsgäste wie der griechische Justizminister besichtigten ihn und äußerten sich anerkennend.

In den folgenden Jahren wurden rasch weitere Anlagen errichtet, in Amtsgebäuden, Banken und Versicherungen, vor allem aber im neuen Typus des mehrstöckigen Büro- und Geschäftshauses, dessen Errichtung um 1900 in Wien eine Blüte erlebte. Die Standorte konzentrierten sich im Wesentlichen auf die City bzw. deren Ausläufer: die Mariahilfer Straße.

Bei Stillstand: Protest

Innerhalb weniger Jahre war das neue Transportmittel fix in der Stadt verankert. So rasch gewöhnte man sich an ihn, dass bei längerem Stillstand lautstarker Protest ertönte. Als der Paternoster im Gerichtsgebäude in der Riemergasse ein halbes Jahr lang außer Betrieb war, empörte sich ein Zeitgenosse heftig: "Es geht aber doch nicht an, dass wir dies ruhig hinnehmen. Bei uns spielt jede Minute eine Rolle."

Die Modernität des Spezialaufzugs beruhte nicht zuletzt auf seinem unbestechlich einfachen Gebrauch ohne jegliche Zugangsbeschränkungen. Kein Aufpasser oder Wärter war vorhanden, keine Tür zu überwinden, keine Taste zu drücken. Die offenen Kabinen verhinderten unangenehme Beklemmungsgefühle, die langsame Bewegung war stets nachvollziehbar. Paternosterfahren stellte sich als emanzipatorischer Vorgang dar, frei von staatlicher Bevormundung. Im Geiste des Liberalismus setzte der Paternoster den selbstverantwortlichen Bürger voraus, der klar entscheiden konnte, welches Risiko er auf sich nahm.

Dieses positive Image behielt der Umlaufaufzug in der Folge bei. Gemeinsam mit dem klassischen Personenlift galt er auch in den Jahrzehnten der Zwischenkriegszeit als modernes metropolitanes Requisit. Doch wie sich stets aufs Neue zeigte, waren Funktionsweise und Gebrauch des Paternosters vielen doch nicht so vertraut wie erhofft. Unfälle kamen vor, leichte zwar, die mit Quetschungen und Knochenbrüchen endeten, sie zeigten jedoch deutlich, dass das Ein- und Aussteigen immer wieder Probleme verursachte.

Nichtsdestoweniger vertrauten auch die Architekten der Nachkriegsmoderne weiterhin auf den Stetigförderer. Man versuchte sogar zu steigern und errichtete ein Paternoster-Hochhaus. So war der 1955 fertiggestellte Ringturm der Wiener Städtischen Versicherung zwar nicht so hoch wie seine Vorbilder in Berlin oder Turin, sein aus 18 Kabinen bestehender Paternoster lief jedoch immerhin über acht Stockwerke.

Schärfere Vorschriften

Die Verschärfung der Sicherheitsvorschriften in den 1970er-Jahren bedeutete das Ende des Paternosters. Neue durften nicht mehr errichtet werden, die alten wurden genauestens überprüft und nur noch für Mitarbeiter der jeweiligen Institutionen zugänglich gemacht. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang diese Entwicklung vor zehn Jahren im September 2007, als der Paternoster im Neuen Institutsgebäude (NIG) demontiert wurde. Generationen von Studierenden waren mit diesem, im Jahr 1962 von der Firma Sowitsch hergestellten Umlaufaufzug unterwegs gewesen. Immerhin konnten Teile davon für das Technische Museum in Wien erhalten werden. Und die Österreichische Mediathek hat einen knapp drei Minuten langen Film aus dem Jahr 1996 über den NIG-Paternoster, der im Internet abrufbar ist.

Längst haben sich bei Paternosterfans nostalgische Gefühle breitgemacht. Die Schriftsteller Heinrich Böll und Hans Erich Nossack verhalfen ihm früh zu literarischen Ehren und beschrieben das Knirschen und Knacken der Kabinen und ihr oft unheimlich wirkendes Hinübergleiten an den Wendepunkten. Angesichts des zunehmenden Verschwindens der alten Anlagen entstand eine begeisterte Community, die noch bestehende Anlagen verzeichnet und dokumentiert.

Auch in Wien wurde in Medien öfter auf das "Aussterben" des Paternosters hingewiesen und die unbedingte Erhaltungswürdigkeit dieser "bedrohten Aufzugsart" betont. Die bisherige "Paternostermetropole Wien" drohte ihren einzigartigen Ruf zu verlieren. Doch die enorm hohen Wartungs- und Reparaturkosten konnten und können immer weniger Betreiber aufbringen. Nur noch sieben Paternoster versehen derzeit in der Stadt ihren Dienst, vier davon aus der Zeit vor 1918. Der älteste im Haus der Industrie, der am leichtesten zugängliche im politischen Herz der Stadt, dem Wiener Rathaus. (Peter Payer, 10.9.2017)