In den 1980er-Jahren wurden in der Islamischen Republik Iran zahlreiche junge Frauen, allesamt politische Gefangene, vor ihrer Exekution vergewaltigt. Die Vergewaltigungen hatten einen theologischen Hintergrund – siehe dazu den letzten Blogbeitrag. Nach islamischer Überlieferung kommen Frauen, die als Jungfrauen sterben, ins Paradies. Die Vergewaltigungen sollten dies verhindern. Um die Vergewaltigungen ihrerseits islamrechtlich zu legitimieren, zwang man die Frauen, vor ihrer Exekution mit einem ihrer Wächter eine sogenannte Zeitehe einzugehen.

Diese Legitimierung wäre jedoch, wie Ezzat Mossallanejad – politischer Theoretiker und Mitbegründer des "Canadian Centre for Victims of Torture" – meint, vielleicht gar nicht notwendig gewesen, da der Koran die sexuelle Versklavung ungläubiger weiblicher Kriegsgefangener gestatte und in der Islamischen Republik Iran bestimmte politische Gefangene als "Kämpfer(innen) gegen Gott" betrachtet würden. Dieser Logik folgend könnten, laut Mossalanejad, weibliche politische Gefangene als Kriegsbeute angesehen werden, deren Versklavung – und ergo Vergewaltigung – legitim wäre.

"Noch immer" und "schon wieder"

Ausgangspunkt des Blogbeitrags war der überwunden geglaubte Geschichtsoptimismus der Aufklärung und der (versteckte) Geschichtsoptimismus vieler Zeitgenossen – etwa der meines Freundes Kave, der, wann immer ihm Phänomene wie Rassismus begegnen, ausruft: "Das es so etwas noch gibt. Dabei schreiben wir doch schon ..." – gefolgt von der jeweils aktuellen Jahreszahl.

Beruht Kaves Empörung über den Rassismus auf sein Erstaunen darüber, dass in einem mitteleuropäischen Land des 21. Jahrhunderts Phänomene wie Rassismus noch immer existieren, fällt unser Entsetzen über die Versklavung weiblicher "Kriegsgefangener" im Iran oder im Islamischen Staat in Syrien und im Irak in die Kategorie "schon wieder": Wie ist es möglich, dass wir heute schon wieder mit diesen – längst überwunden geglaubten – Erscheinungsformen der Barbarei konfrontiert sind, die uns erschreckend unzeitgemäß erscheinen?

Auf dieses Unzeitgemäße reagieren wir mit dem Impuls, es ungeschehen machen zu wollen – indem wir es als zeitgemäß zu denken versuchen: Lieber als vom Islam sprechen wir – wenn etwa vom Islamischen Staat oder von der Islamischen Republik Iran die Rede ist – von "Islamismus", um zu signalisieren, dass es sich bei diesem "Islamismus" um eine moderne, mit dem traditionellen Islam keineswegs identische, politische Ideologie handelt.

So erschien, um ein beliebiges Beispiel zu nennen, in einem STANDARD-Artikel vom 2. September 2014 das Bild einer Fahne, auf der nichts anderes zu lesen war als das für alle Moslems gültige islamische Glaubensbekenntnis: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammad ist sein Prophet". Der Untertitel lautete: "Heimische Jugendliche halten stolz eine Fahne mit islamistischer Symbolik in die Kamera".

Jugendliche halten eine Fahne mit "islamistischer Symbolik".
Foto: screenshot/FB

Notfalls mit den Mitteln der Moderne

Tatsächlich ist es nicht unberechtigt, den "Islamismus" als Reaktion auf die Moderne innerhalb der Koordinaten der Moderne aufzufassen – genauer als Reaktion von Teilen islamischer Eliten auf die Moderne, den Kolonialismus und die frühe Globalisierung. Zuallererst – und am augenscheinlichsten – machte sich die Überlegenheit moderner europäischer Gesellschaften im islamisch beherrschten Teil der Welt aber militärisch bemerkbar: Durch Napoleons Ägyptenfeldzug und die Russisch-Persischen Kriege im 18. und im 19. Jahrhundert. Persien erklärte den dritten der insgesamt vier Russisch-Persischen Kriege zum Heiligen Krieg und verlor ihn – und die drei anderen – dank der strategischen und technischen Überlegenheit der "Ungläubigen". Diese militärischen Niederlagen waren frühe Initialzündungen für den "Islamismus", dem es nicht darum ging, den Islam neu zu erfinden. Sondern darum, ihn in die Lage zu versetzen, die "ungläubige Moderne", die "ungläubigen" – wissenschaftlich, technisch und militärisch überlegenen – Europäer notfalls auch mit den Mitteln der Moderne zu besiegen.

Was die Glaubenslehre betrifft, unterscheidet sich der sogenannte "Islamismus" (von dem es verschiedene Varianten gibt) nicht grundsätzlich vom "Alltagsislam". "Islamisten" sind gläubige Moslems – ihnen diesen ihren Glauben abzusprechen, wäre absurd und in gewisser Weise überheblich. Und zumindest ihre Führer kennen "ihren Islam" in der Regel sehr gut. Der Kalif, der politisch-religiöse Führer, des Islamischen Staates etwa hat in Bagdad zehn Jahre lang islamisches Recht studiert.

So berechtigt es also sein mag, den sogenannten politischen Islam als Reaktion auf die Moderne aufzufassen, so verfehlt wäre es, dem Missverständnis zu erliegen, "Islamisten" würden einer anderen – quasi "islamistischen" – Glaubenslehre anhängen, und sich darin von anderen Anhängern des Islam unterscheiden. Ruhollah Khomeini, der Islamist par excellence, machte nach dem Sieg der islamischen Revolution die traditionelle, "alltagsislamische" Scharia zur Grundlage des iranischen Rechtssystems – schlicht deshalb, weil eine "islamistische Scharia" nicht existiert.

Warum die Islam-Debatte auf der Stelle tritt

Übrigens ist der Begriff "politischer Islam" ein Pleonasmus, ähnlich wie "weißer Schimmel".  Zum einen, weil jede Form von Religion politisch ist – auch ihre verinnerlichten Formen, wie etwa jener Protestantismus, den Karl Marx im Blick hatte, als er in der Einleitung seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" schrieb: "[Luther] hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat [...] Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt."

Khomeini machte die "alltagsislamische" Scharia zur Grundlage des iranischen Rechtssystems.
Foto: APA/AFP/AHMAD AL-RUBAYE

Zum anderen ist der Islam seit den Tagen Mohammeds auch in einem engeren, "handfesteren" Sinne politisch. Spätestens seit der Begründer des Islam nach seiner Flucht von Mekka nach Medina zum Staatsgründer wurde und in weiterer Folge auch den einen oder anderen Krieg  – arabisch "Dschihad" – führte. Mohammed selbst war also der erste "Dschihadist".

Dass der Islam als Glaubenslehre "von Haus aus" politisch ist, bedeutet selbstverständlich nicht, dass Individuen, die sich zum Islam bekennen, in jedem Fall politisch engagiert oder auch nur interessiert sein müssen. In früheren Blogbeiträgen – siehe zum Beispiel "Warum wir Linke nicht über den Islam reden können" – habe ich zu zeigen versucht, dass zwischen Menschen, die aus islamisch geprägten Gesellschaften stammen, und dem Islam keine fixe Verknüpfung existiert, dass diese nicht in jedem Fall mit dem Islam – oder mit allen Aspekten der islamischen Glaubenslehre – identifiziert sein müssen. Und dass in Umfragen ein signifikanter Anteil jener, die sich durchaus zum Islam bekennen, zugleich auch angibt, "nicht religiös" oder "nicht gläubig" zu sein.

Dass diese – eigentlich triviale – Unterscheidung zwischen einer Glaubenslehre und den Subjekten, die sich tatsächlich oder vermeintlich zu ihr bekennen, kaum je getroffen wird, ist mit ein Grund dafür, dass die Islam-Debatte seit Jahren auf der Stelle tritt.

Abgewehrter Albtraum

Bei unserem Versuch, unzeitgemäße Phänomene wie den Islamischen Staat, die Taliban oder die Islamische Republik Iran als zeitgemäß, weil "islamistisch", zu imaginieren, handelt es sich um eine Abwehr im strengen psychoanalytischen Verständnis: Abgewehrt – oder verdrängt – wird die albtraumhafte Fantasie, dass es sich bei den Verbrechen des Islamischen Staates oder den Vergewaltigungen weiblicher "Kriegsgefangener" in den Gefängnissen Irans buchstäblich um die Wiederkehr einer barbarischen Vorzeit handeln könnte. Hier wird – wohlgemerkt – nicht die Realität verdrängt. Die buchstäbliche, reale Wiederkehr einer barbarischen Vorzeit ist mangels Zeitmaschinen selbstverständlich nicht möglich. Wir verdrängen vielmehr die Angst vor etwas Irrealem – dem Alptraum von der Wiederkehr der Vorzeit – mit der ebenso irrealen Annahme, es gäbe einen substantiellen Unterschied zwischen dem Islam und dem "Islamismus". Und fassen letzteren als modernes, zeitgenössisches Phänomen auf, um das Unzeitgemäße jener erschreckenden Phänomene in unserer Vorstellung in ein zeitgemäßes  Gewand zu kleiden.

Das imaginäre "Verkleiden des Unzeitgemäßen als zeitgemäß" erinnert an eine berühmte Passage im "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte", in der Marx von den Teilnehmern an der Französischen Revolution spricht, die sich als Bürger der antiken römischen Republik "drapiert", von Napoleon, der sich als römischer Kaiser imaginiert, von Luther, der sich als Apostel Paulus "maskiert" und Cromwell, Führer der englischen Revolution, der sich mit den Propheten des Alten Testaments identifiziert hätte (2007, S. 10f.). Bei Marx verkleiden sich allerdings die revolutionären Subjekte der jeweiligen Gegenwart als Gestalten der Vergangenheit, während wir – umgekehrt – die Gotteskrieger des Islamischen Staates, die uns im ersten Moment als Gestalten aus der Vergangenheit erscheinen, in unserer Vorstellung als "Islamisten" – sprich als Parteigänger einer zeitgenössischen Ideologie – und ergo als Zeitgenossen "verkleiden". (Sama Maani, 14.9.2017)

Fortsetzung folgt.

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