STANDARD: Am Sonntag wurden wir Zeugen massiver Polizeigewalt mitten in Europa, in Katalonien. Beide Player, der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy und der Chef der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont, beharren darauf, nur auf Basis des Rechts gehandelt zu haben. Wer hat recht?

Pablo Simón Cosano: Das Referendum an sich ist vom rechtlichen Standpunkt aus eindeutig nicht gültig. Das ist klar. Das Problem ist, dass hier zwei Extremstandpunkte aufeinandergeprallt sind. Einerseits haben wir die katalanische Regionalregierung aus einer Koalition mit eindeutig separatistischer Agenda, andererseits ist da die schwache Zentralregierung unter Mariano Rajoy, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Mittel des Rechtsstaats auszuschöpfen, um dieses Referendum zu verhindern.

Beide Seiten haben Öl ins Feuer gegossen, beiden Seiten muss klar gewesen sein, dass dieser Konfrontationskurs nur in der Situation enden konnte, die wir am Sonntag gesehen haben. Nur vier Prozent der Wahllokale konnten am Abstimmungstag tatsächlich geschlossen werden. Letztendlich ist klar, dass der Polizeieinsatz nichts weiter bewirkt hat, als dass die Unabhängigkeitsbewegung nach diesem Sonntag Punkte gewonnen hat und weiteren Zulauf bekommen wird. Der Einsatz von Gewalt und Repression hat nur die Legitimität der Bewegung gestärkt, sowohl in Katalonien als auch aus internationaler Sicht.

STANDARD: Sie erwähnen die internationale Sicht. Puigdemont wird zwar die Unabhängigkeit erklären, hat aber zugleich um europäische Unterstützung gebeten. Welche Rolle kann die EU spielen?

Simón: Von der EU kann man sich meiner Meinung nach nicht viel erwarten. Natürlich gibt es jetzt besorgte Aufrufe, zum Dialog zu finden. Vielleicht folgen auch ein paar Besuche europäischer Politiker. Aber letztendlich ist die EU mit der Verhandlung des Ausstiegs von Großbritannien mehr als beschäftigt. Und außerdem: Nur wenn die spanische Zentralregierung eine Mediation der EU einfordert, wird es die auch geben. Aber: Welche Art von Lösung kann die EU vermitteln? Eine Vorgehensweise wie bei Polen oder Ungarn würde ebenfalls nichts bewirken.

STANDARD: Das spanische Parlamentspräsidium hat vor einigen Wochen eine Kommission genehmigt, die sich der territorialen Neuordnung Spaniens annehmen soll. Ist davon ein Lösungsansatz zu erwarten?

Simón: Vielleicht. Eine Territorialreform wäre grundsätzlich ein Ansatz. Aber ich sehe den politischen Willen von Rajoys Partido Popularderzeit nicht. Man müsste mit allen 17 autonomen Gemeinschaften neue Bedingungen aushandeln, und hier liegt der Hund begraben. Das umstrittenste Thema wären wohl die Finanzen. Eine Sonderregelung für Katalonien beim Finanzausgleich hätte große Auswirkungen auf die anderen autonomen Gemeinschaften, vor allem auf Andalusien. Der PP würde in Andalusien, in der Extremadura und in Kastilien extrem an Unterstützung verlieren. Dann wären aus Sicht der Zentralregierung noch mehr Fronten geöffnet.

STANDARD: Was passiert nun als Nächstes?

Simón: Die katalanische Regierung muss auf Basis des "Abspaltungsgesetzes" innerhalb von 48 Stunden einseitig die Unabhängigkeit erklären. Da gibt es jetzt keine Alternative dazu. Sobald das erfolgt ist, wird sich die Diskussion wohl wieder von der Polizeigewalt entfernen und hin zum Status Kataloniens und der Einheit Spaniens als Nation drehen. Was natürlich im Interesse Rajoys liegt. Dann kommt wohl die Stunde des Artikels 155 der spanischen Verfassung (gibt der Zentralregierung das Recht, mit allen Mitteln einzugreifen, wenn eine autonome Gemeinschaft "die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, dass ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt", Anm.).

Die spanische Regierung wird handeln, und ich bin auf das Schlimmste gefasst. Ich bin sehr pessimistisch, was die Zukunft betrifft. Dieser Konflikt wird uns die nächsten Jahrzehnte begleiten. (Manuela Honsig-Erlenburg, 2.10.2017)