Der Preis für den Rücktritt: Ankaras Bürgermeister Melih Gökçek (re.) will einen Platz in der AKP für seinen Sohn Osman, so heißt es.

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Ankara/Athen – Seine fünfte Wahl gewann er mit 32.000 Stimmen Vorsprung und einem Stromausfall bei der Auszählung. Auf Twitter tobte er sich schon aus, als Donald Trump nur Golf spielte. Bizarre Vorwürfe gegen die US-Regierung, die künstliche Erdbeben in der Türkei auslöse, oder Rufmordkampagnen gegen kritische Journalisten wie die türkische BBC-Korrespondentin (#SeiKeinAgentFürEnglandSelinGirit) gehen ihm leicht von der Hand. Seine jüngste Tat sind 4,5 Kilometer Schnellstraße, ausgewalzt in einer Nacht und einem Tag quer durch den Campus-Wald von ODTÜ, der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara und einer der letzten Bastionen des freien Denkens im Land.

Für jemanden, der so viel Gegnerschaft und Verachtung auf sich vereint, hat sich Melih Gökçek erstaunlich lange gehalten: Seit mehr als 23 Jahren ist er Bürgermeister der türkischen Hauptstadt. Gökçek kam auf die Bühne, als es die AKP noch gar nicht gab und Tayyip Erdogan ebenfalls als Bürgermeister begann, allerdings in Istanbul. Doch jetzt ist Schluss. Zwei, vielleicht drei Tage noch gab ihm Abdülkadir Selvi, der Kolumnist des Massenblatts Hürriyet, der beste Kontakte zu Partei und Regierung hat. Der Anfang des Rücktritts habe begonnen, erklärte Selvi. Dieses Wochenende ist Klausurtagung bei der AKP.

Schachzug für 2019

Gökçeks Sturz wäre weit mehr als eine lokalpolitische Nachricht in der Türkei. Der Abtritt des gewieften Machtmenschen, vom autoritär regierenden Staats- und Parteichef Erdogan erzwungen, würde als wichtigstes Zeichen der Erneuerung verstanden werden. Und als notwendiger Schachzug, um 2019 klar zu gewinnen, wenn im Frühjahr zunächst die Kommunalwahlen anstehen, im Herbst dann gleichzeitig Präsidenten- und Parlamentswahlen.

Seit Erdogan von der "Materialermüdung des Metalls" in der AKP gesprochen hat, rollen die Köpfe. 16 Provinzchefs der konservativ-islamischen Partei sind bereits geschasst worden, vier allein in dieser Woche. Langdienende Bürgermeister und solche, die beim Verfassungsreferendum für Erdogan im April dieses Jahres versagten und keine Mehrheit für das Ja zum Präsidialregime zustande brachten, werden nun aus ihren Ämtern gedrängt. Gaziantep im Südosten, Nevsehir in Zentralanatolien, Bolu, Balikesir oder Bursa im Westen sind dieser Tage im Gespräch. Kadir Topbas in Istanbul gab selbst vor zwei Wochen auf. Doch Melih Gökçek, der Ende dieses Monats 69 Jahre alt wird, ist eine andere Spielklasse.

Ein Foto auf dem Rollfeld

Als Erdogan am Dienstag nach Teheran abflog, stand auch Gökçek plötzlich auf dem Rollfeld, um den Staatschef zu verabschieden. Der Bürgermeister brauchte ein Foto mit Erdogan. Zu groß war der Gerüchtestrom über Gökçeks bevorstehenden Rücktritt angeschwollen. Donnerstagabend, nach Erdogans Rückkehr, war Ankaras Bürgermeister dann zwei Stunden im Präsidentenpalast.

Die Palast-Auguren sind sich uneinig: Hatte Gökçek versucht zu verhandeln oder ist er erfahren genug, um gar nicht erst zu versuchen, Erdogan unter Druck zu setzen? Gökçek weiß viel – vor allem über die Zeitbombe, die in der AKP tickt: die jahrelangen, nun kompromittierenden Verbindungen, die er selbst, aber auch seine Parteifreunde wohl zur Gülen-Bewegung unterhielten. Die wurde ja zur Terrororganisation erklärt. (Markus Bernath, 8.10.2017)