Große Verwirrung herrschte am Tag nach dem mit Nervosität erwarteten Auftritt von Kataloniens Regionalpräsident Carles Puigdemont. Hat er nun am Dienstag die Unabhängigkeit ausgerufen oder nicht? Dass auch Spaniens Premier Mariano Rajoy in dieser Frage eine Klärung verlangt, zeigt, dass er sich der Brisanz der Gesamtlage bewusst ist. Auch er will Eskalationspotenzial aus der Situation beseitigen, indem er zur gleichen Taktik greift wie sein katalanisches Gegenüber: Er setzt auf Verzögerung, nimmt damit Druck heraus und gibt Puigdemont die Zeit, Vermittler und eine gemeinsame Position innerhalb seiner Regierungskoalition zu finden.

Rajoy geht damit kein großes Risiko ein, schließlich hat er die Verfassung auf seiner Seite. Artikel 155, der die Entmachtung der Regionalregierung ermöglicht, kann auch noch später zur Anwendung kommen. Der Druck auf die katalanische Regierung, in der Autonomiefrage den Rückwärtsgang einzulegen, wird in den nächsten Tagen größer werden: vonseiten der Wirtschaft, vonseiten der EU, die Barcelona keine Perspektive bietet, vonseiten der Anti-Unabhängigkeitsbewegung, die immer stärker wird.

Ein Beharren auf Unabhängigkeit führt immer deutlicher in Richtung Abgrund. Sollte sich diese Erkenntnis auch in Barcelona durchsetzen, kann Puigdemont der Mann sein, der Verhandlungen über eine weitreichende Autonomie beginnt. Wenn nicht, wird es wohl Neuwahlen geben. (Manuela Honsig-Erlenburg, 11.10.2017)