"Es wird hier ein Buch verkauft, welches den Titel führt Leiden des jungen Werthers. Diese Schrift ist eine Apologie und Empfehlung des Selbstmordes; und es ist auch um des Willens gefährlich, weil es in witziger und einehmender Schreib Art abgefaßt ist [...] so hat die theologische Fakultät für nötig befunden zu sorgen, dass diese Schrift unterdrückt werde: dazumal itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden."¹

Wenn Theologen früherer Jahrhunderte zu zeitgenössischen Werken der Literatur Stellung nahmen, geschah es meist nicht in wohlwollend-freundschaftlicher Absicht – wie dieser an die "Churfürstliche Bücherkommission" adressierte Verbotsantrag der theologischen Fakultät der Universität Leipzig aus dem Jahre 1775 eindrücklich zeigt.

"Fading des Glaubensbewusstseins"

Solcherart Feindseligkeiten gegen Schriftsteller und ihre Werke sind seitens der offiziellen Theologie im 21. Jahrhunderts nicht mehr zu befürchten. Theologen in und außerhalb der Universität begegnen heute der Literatur weit entspannter – wenn auch in der Regel nicht mit übergroßem Interesse. Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel bildet Jan-Heiner Tück, Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Für Theologen sei die Beschäftigung mit der Literatur der Gegenwart geradezu ein Gebot, meint Tück im Gespräch. Nicht bloß, weil diese Beschäftigung den Horizont weitet, die Sprache schult und dazu anregt, bestimmte in der zeitgenössischen Literatur ausgelegte Fäden aufzunehmen und theologisch "weiterzuspinnen". Fruchtbar wäre vor allem auch die theologische Rezeption der "Renaissance religiöser Motive in der zeitgenössischen Literatur", die Tück als Reaktion auf das "Fading des Glaubensbewusstseins" in der Gegenwart deutet.

Um diese Auseinandersetzung zu fördern und das Gespräch zwischen Literatur und Theologie in Gang zu bringen, hat Tück im Sommersemester 2016 die "Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion" ins Leben gerufen, die Newcomern und renommierten Autoren ein Forum bieten soll, Einblicke in das eigene literarische Schaffen und seine Bezüge zur Religion in einem dogmatisch nicht enggeführten Sinn zu geben.

Im Blogbeitrag über den Theologen und Schriftsteller Gerhard Hammerschmied hatte ich die verbreitete These, wonach heute, nach dem "Tode Gottes" und der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Entmachtung der Religion, die Literatur zum Zufluchtsort des Übernatürlichen und Geheimnisvollen geworden sei, zurückgewiesen. Tück widerspricht mir im Gespräch, und weist darauf hin, dass seit den 1960er-Jahren "das sperrige Thema Hölle" aus Theologie und Kirche weithin verschwunden sei – dafür käme es in der Literatur vermehrt vor. Dort nämlich, wo sie die "abgründige Verlorenheit und die metaphysische Unbehaustheit des modernen Menschen" im Blick habe. Eine Migration der Hölle von der Sphäre der Kirche und der Theologie in jene der zeitgenössischen Literatur.

"Pfingstwunder"

Von der Hölle ist zwar im 2016 veröffentlichten Roman "Pfingstwunder" der Berliner Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die im April desselben Jahres den Vortragsreigen der Wiener Poetikdozentur eröffnete, auch die Rede – und zwar ausgiebig. Im Zentrum ihres für die Renaissance religiöser Motive in der Literatur der Gegenwart exemplarischen Textes steht aber – der Himmel.

36 Teilnehmer eines internationalen Dante-Kongresses werden auf dem aventinischen Hügel in Rom, just zum Zeitpunkt, als die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten, von einer – in den Worten Tücks – "paradiesischen Drift" erfasst und nach oben gerissen. Einer aber, der Frankfurter Romanist Gottfried Elsheimer, bleibt sitzen – und muss mitansehen, wie seine Kollegen, mit denen er gerade angeregt über Dantes "Göttliche Komödie" diskutiert hat, von der Schwerkraft des Himmels gepackt werden und himmelwärts entfleuchen.

"Dante's Inferno" auf Coney Island als Vergnügunsparkattraktion.
Foto: AP/Mary Altaffer

Elsheimer ist eine Figur, die mit dem Glauben gebrochen hat. Gleich zu Beginn des Romans bezeichnet er die Erde als Hölle, in der Menschen verhungern und verrecken, erschossen und erschlagen werden – ohne dass Gott etwas täte. Mit diesem apathischen Zuschauer-Gott will er nichts zu tun haben. Das Wort "Wunder", das auf das Vorkommnis in Rom gut passen würde, will er nicht denken, es ist ihm zu groß und suspekt. Den Fragen der italienischen Polizei antwortet er dementsprechend ausweichend. Zuhause in Frankfurt beginnt er, um das unerklärliche und für ihn traumatische Ereignis zu verarbeiten, mit Aufzeichnungen. Darin steht zu lesen: "Was [...] in Rom geschah, hat alles über den Haufen geworfen. Ich kenne mich selbst nicht mehr." Und: "Vorher – Nachher, das verbindet sich nicht mehr."

Auf der Suche nach einer Erklärung beginnt Elsheimer die Vorträge auf dem Dante-Kongress noch einmal im Geist Revue passieren zu lassen. Er, der Dante bisher mit dem distanzierten Blick des Forschers begegnet war, sich von der "Göttlichen Komödie" nie persönlich angesprochen gefühlt hatte, muss nun seine professionelle Distanz mehr und mehr aufgeben – und sich fragen, ob Dantes Werk nicht auch ihn persönlich betreffen könnte. Mit Tück zu sprechen: "Wäre es möglich, dass nicht nur er die 'Göttliche Komödie', sondern – umgekehrt – auch die 'Göttliche Komödie' ihn, Elsheimer, liest und befragt?" "Komme ich", fragt Elsheimer, "womöglich selbst in diesem außergewöhnlichen Gedichtreigen vor?"

Erfrischende Umkehrung der Blickrichtung

Diese erfrischend-erhellende Umkehrung der Blickrichtung erinnert an Adornos Abrechnung mit der gängigen zeitgenössischen Haltung gegenüber Denkern wie Kant oder Hegel in seinen "Drei Studien zu Hegel". Er weist dort den "unverschämten Anspruch" zurück, dass "wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, [...] darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute, [...] klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet."²

Die Fragen, die sich von hier aus ergeben – was die Gegenwart nämlich "vor Dante" bedeuten, respektive ob auch unsere Gegenwart "in diesem außergewöhnlichen Gedichtreigen" vorkommen mag, verweisen auf jenes 20. Jahrhundert, das für so viele Menschen mit der Hoffnung auf umfassende gesellschaftliche Emanzipation begann. Im letzten Blogbeitrag "Was die Islamische von der Oktoberrevolution unterscheidet" war von den "Biokosmisten" die Rede, deren Ideen immensen Einfluss auf die Wissenschaft und die Kunst der frühen Sowjetunion hatten, und deren Vertreter allen Ernstes die Toten vergangener Generationen zum Leben erwecken wollten, um sie am Paradies des Sowjetkommunismus teilhaben zu lassen. Das Paradies blieb natürlich aus – und in weiterer Folge liest sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie die Fortsetzung des "Infernos" – des ersten Teils der "Göttlichen Komödie" –, geschrieben von Dante selbst, in der Absicht, die ursprünglichen Höllenvisionen seiner "Divina Commedia" noch weit zu überbieten.

"Dante und Virgil in der Hölle" von William Bouguereau.
Foto: Public Domain [cc;0;by]

Gottes Fiasko ...

Reizvoll wäre aber auch die Vorstellung, dass Dante das Fortschreiben seines Infernos "Kollegen" wie Primo Levi oder Samuel Beckett übertragen habe – auf die auch Lewitscharoff im "Pfingstwunder" verweist. Beide reagierten auf das Inferno des 20. Jahrhunderts mit den Mitteln der Dichtung – und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Dante. Primo Levi, der im antifaschistischen Widerstand aktiv war, überlebte Auschwitz, wo er – wie er in seinem Buch "Ist das ein Mensch?" berichtet – für einen Franzosen den Italienischlehrer spielte, indem er aus dem Gedächtnis jene Stelle der "Göttlichen Komödie" zitierte, die vom Aufbruch des Odysseus zu seiner letzten Reise handelt. Und über Beckett sagt Lewitscharoff in einem Gespräch mit Jan-Heiner Tück, im Nachgang  ihrer Vorlesung bei der Poetikdozentur, dass er sich – hätte es das Inferno des 20. Jahrhunderts nicht gegeben, "nicht mit solcher Inbrunst über Dantes 'Commedia' gebeugt hätte, um daraus Teile zu entwenden, sie zu verhackstücken und ins absurd Komödiantische zu überführen."

... ist immer noch Gottes Fiasko

Ich war bisher – und bin noch immer – zusammen mit dem US-amerikanischen Rabbiner Richard Rubenstein, der (naiven?) Überzeugung, dass Gott, zumal ein gütiger und allmächtiger, allerspätestens in Auschwitz gestorben ist. Sibylle Lewitscharoffs Roman "Pfingstwunder" und dessen Interpretation durch Jan-Heiner Tück fordern diese Position auf radikale Weise heraus. Der Frage: Wie kann man nach Auschwitz an Gott glauben, kontrapunktieren sie mit der Gegenfrage: Wie kann man nach Auschwitz nicht an Gott glauben – und verweisen auf das Gedächtnis Gottes als Rettungsinstanz für die Opfer. Zugleich legen sie nahe, dass eine Auseinandersetzung mit der Shoa ohne Rückgriff auf religiöse Kategorien wie die Hölle nicht zu haben sei. In Ausschwitz wäre Gott demnach nicht gestorben – sondern, ganz im Gegenteil, auferstanden.

In den Worten Slavoj Zizeks: Gottes Fiasko ist immer noch Gottes Fiasko. Will sagen: Auch wenn die Shoa die Vorstellung eines allmächtigen und gütigen Gottes ad absurdum geführt hat, können wir ihre katastrophale Trageweite nur in einem theologischen Rahmen, unter Verwendung theologischer Begriffe adäquat zu erfassen versuchen. Eine These über die ich gerne mit Jan-Heiner Tück und Slavoj Zizek weiterstreiten würde. Vielleicht in diesem Blog. (Sama Maani, 17.10.2017)

Am 24.10.2017 findet um 18.30 Uhr im Hörsaal des Hauptgebäudes der Uni Wien die "Poetikdozentur"-Vorlesung mit Michael Köhlmeier statt. Thema: "Satan und Madonna - ein Plot. Die Nähe von Gut und Böse in den Märchen 'Das Mädchen ohne Hände' und 'Marienkind'".

¹ Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Text und Kommentar, Frankfurt am Main 1998, S. 167

² Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien über Hegel, Frankfurt am Main 2003, S. 251  

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