Zufall? Diesen Sommer wurde in der Salzburger Felsenreitschule der "Lear" gegeben. Gerald Finley in der Titelrolle. Die Farben der Luftballons haben keine politische Bedeutung.

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Schlag nach bei Shakespeare", heißt es in Cole Porters Musical Kiss Me, Kate, und weiter: "Die bess'ren Frauen gewinnt man nur / durch Beherrschung der Literatur." Das meint nicht nur den Anschein von Bildung, den die Berufung auf den Dichter verleiht, sondern Cole Porters Texter findet recht handfeste Verführungsstrategien in Shakespeares Stücken: "Selbst die kälteste Frau von Chikago / kriegst du 'rum, bist du zynisch wie Jago." Und daher lautet der Refrain: "Schlag nach bei Shakespeare, bei dem steht was drin! / Kommst du mit Shakespeare, sind die Weiber gleich ganz hin ... Sie sind alle hin!" Wer das in Hardcore hören will, gehe auf Youtube zur Version des Duos Bill Ramsey und Gus Backus – Gerhard Bronners wunderbare Parodie ist leider in den Tiefen der Archive des ORF verschwunden.

Der Schwan von Avon

Was die Geschlechterrollen betrifft und wohl auch den Geschmack, sind Einwände gegen den Text berechtigt; doch irgendwie gehört er zum Zeitgeist wie der Goethe-Kult im 19. Jahrhundert. Harold Bloom, der US-amerikanische Kulturpapst, hat ja schließlich konstatiert, dass der "Schwan von Avon" den modernen Menschen erfunden hätte. Und schon früher hat Karl Kraus angesichts der von ihm angeprangerten Heuchelei der Wiener Bürger konstatiert, dass Shakespeare "alles vorausgewusst" hätte. Ein schöner Zufall kam ihm dabei zu Hilfe: Die bigotten Protagonisten des Stückes Maß für Maß residieren in einer Stadt namens Wien, und so klagt ein Würdenträger: "Meiner Sendung Amt / ließ manches mich erleben hier in Wien."

Auch Bundeskanzler Christian Kern hat bei Shakespeare nachgeschlagen und von ihm gelernt. Im Zentrum seiner Rezeption steht nicht die weibliche Gunst, ein Aspekt, den Cole Porters Texter ein wenig übertreibt: Shakespeare lässt ja auch einige werbende Männer scheitern wie etwa den eitlen Haushofmeister Malvolio, der sich in Was ihr wollt einreden lässt, seine Herrin Olivia würde ihn ob seiner lächerlichen gelben Strümpfe erhören.

Der Kommentator Kern hingegen beruft sich politisch auf Shakespeare – Macht korrumpiere auch den aufrechtesten Charakter, und deswegen hat er sich ein zeitliches Limit für seine politische Funktion gesetzt. Dass hier die Umstände – und die Wählergunst – mitreden, hat er nicht so ganz bedacht; auch enthält diese Aussage einen subtextuellen Vorwurf an Bruno Kreisky, der ja mit seinen 13 Kanzlerjahren den von Kern angedachten korruptionsfreien Zeitraum um einiges überzogen hat.

Witwenverführung

Auch waren Shakespeares Figuren nicht wirklich dem Tricksen abgeneigt, man denke an Richard III., der es immerhin schaffte, die Witwe des von ihm gemordeten Königs beim Begräbnis zu verführen: "Ward je in dieser Laun' ein Weib gewonnen? / Ich will sie haben, doch nicht lang behalten."

Was Kern an den Protagonisten der Shakespeare'schen Königsdramen so imponiert, ist deren Führungsstärke und Motivationskraft. Ein recht einsamer Rezeptionsmodus, der der polternden Rede der königlichen Protagonisten den Vorzug vor der Handlung gibt! Der große polnische Shakespeare-Forscher Jan Kott hat den schicksalshaften Mechanismus der Königsdramen ein wenig anders entschlüsselt: Ein Richard tötet einen Heinrich und wird deswegen vom nächsten Heinrich getötet. Motivation und Führungsstärke sind da irrelevantes Beiwerk, ja manchmal sind die Figuren so wirr, dass gerade im Fehlen dieser Qualifikationen ihre Bühnenwirksamkeit liegt. "Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd!" Christian Kern hingegen sieht in diesen Dramen die "beste Managementlektüre, die es gibt". Zunächst: Das sei ihm unbenommen, denn – so wieder Jan Kott – Shakespeare ist so vieldeutig, dass ihm jeder entnehmen darf, was er will.

Alle tot, und einer weint

Aber was meint Kern hier gefunden zu haben – außer markigen Reden im konkurrierenden Männerbund ohne Nachhaltigkeit bei den Gefolgsleuten? Bei "Führungsstärke" und "Motivationskraft" würde man sich wohl ein anderes Ergebnis wünschen, als es die Shakespeare'schen Königsdramen haben. In einem zweifelnden Moment seines Shakespeare-Kommentars merkt der Kanzler selbst an, dass bei seinem Lehrmeister "am Schluss meistens alle tot sind und einer weint". Der Weinende ist schwer zu identifizieren, aber auch unser Interpret ist ein wenig rätselhaft.

Walter Benjamin, über dessen ambivalente Beziehung zu Karl Kraus Bände geschrieben wurden, hat darauf hingewiesen: Karl Kraus ist Shakespeares "Timon von Athen"; das meint: Wer mit allzu großer Beteiligung über Shakespeare spricht, macht sich selbst zu einer Figur im Kosmos des Dichters. Wo können wir da Christian Kern positionieren?

Lear oder Hamlet?

Ist er der Macbeth, der von den Hexen, mit denen er einst ein heilloses Bündnis eingegangen ist, verspottet, von den Anhängern des von ihm gemordeten Duncan gejagt, allmählich die letzten Gefolgsleute verliert? Oder König Lear, der den Schmeichlern getraut hat und jetzt, nur von seinem Narren begleitet, auf der sturmumtosten Heide rast? Oder der leichtgläubige und eifersüchtige Frauenmörder Othello, der sich nach einer großen Rede über seine Liebe zur ermordeten Desdemona und seine Schwäche – bei Verdi: "Jeder Knabe kann das Schwert mir entreißen" – selbst tötet? Oder ein Hamlet, der zwar erkannt hat, dass im Staate Dänemark etwas faul ist, dann aber an sich selbst, den Umständen und der mangelnden Zeit gescheitert ist, sodass der mögliche Retter Fortinbras nach der Machtübernahme ihm nachruft: "Denn er wäre gewiss, wär er dazugekommen, ein sehr edler König geworden." (Alfred Pfabigan, 13.10.2017)